Cheetah Manor – Der Schwur der Indianerin Leseprobe

Prolog

„Ich bin was?“ Völlig entgeistert starrte Eric Morgan seinen Anwalt, Freund und Schwager an. „Das ist nicht möglich!“, stammelte er.
Langsam blickte Ethan Washington von dem Schriftstück auf und legte es zurück auf Erics Schreibtisch. „Wenn es nach diesem Brief geht, bist du seit fünf Jahren Vater einer Tochter.“
Eric war fassungslos. Wie war das möglich? Wie konnte er ein Kind haben, ohne davon zu wissen? Es musste ein Irrtum vorliegen, anders konnte er sich diese Ungeheuerlichkeit nicht erklären.
„Das ist einfach nicht möglich“, wiederholte er tonlos und griff nach dem Schriftstück. Er musste sich vergewissern, dass wirklich er gemeint war. Dass sein Name auf dem Dokument stand. Er las seinen Namen, und es bestand kein Zweifel, dass der Brief an ihn adressiert war. Nachdenklich starrte er auf einen weiteren Namen.
Amber Perry.
Sollte er diese Person kennen? Er hatte gehofft, dass es bei ihm Klick machen würde. Sosehr er sich auch den Kopf zermarterte, ihm sagte der Name nichts.
Wie war Amber Perry also auf die Idee gekommen, ihn auf der Geburtsurkunde ihrer Tochter als Vater auszuweisen? Er musste ihr zugutehalten, dass sie bisher nie mit Forderungen auf ihn zugekommen war, aber das machte die Sache auch nicht besser. Es war unmöglich. Er konnte keine Tochter haben, und deshalb konnte er dieses Schreiben nicht so einfach hinnehmen.
Dass Amber Perry bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, bedauerte er zutiefst, aber dass er jetzt für ihre Tochter sorgen sollte, dieses Kind, von dem er nicht einmal wusste, ob es sein Fleisch und Blut war, widerstrebte ihm.
„Wer ist diese Frau?“, fragte Ethan.
Hilflos zuckte Eric mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen? Ich kenne sie nicht.“
„Nun …“ Der Anwalt grinste ihn spitzbübisch an. „… wenn du eine Tochter hast, musst du dieser Frau zumindest körperlich sehr nahe gekommen sein.“
Eric würde sicher nicht mit dem Freund sein Liebesleben diskutieren. Das ging ihn nichts an. Er hatte eine ungestüme Zeit hinter sich. Während seines Studiums hatte er in New Orleans gelebt und war regelmäßig mit seinen Freunden um die Häuser gezogen. Natürlich hatte er die ein oder andere Frau abgeschleppt, aber es war nie etwas Ernstes gewesen. Keine hatte er länger als eine Woche gedatet. Keine war ihm so wichtig gewesen, dass er in Erwägung gezogen hätte, sie in die Nähe von Cheetah Manor zu lassen. Keiner hatte er sein Geheimnis anvertraut.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass …“ Er ließ den Satz unvollendet. Es auszusprechen, machte es real, und dazu war er noch nicht bereit.
„Zuerst werden wir einen Vaterschaftstest veranlassen“, schlug Ethan vor und war wieder in seinem Element als Anwalt.
Eric hoffte inständig, dass sich dadurch der Irrtum schnell aufklärte. Denn er war noch immer fest davon überzeugt, dass er kein Kind haben konnte. Das hätte er gewusst, er hätte es spüren müssen.
„Du bist immer noch der Meinung, dass dir jemand ein Kind anhängen möchte?“, vergewisserte sich Ethan noch einmal.
„Natürlich“, entgegnete Eric entrüstet. Auch wenn es etwas abwegig klang, war er sicher, dass ihn jemand finanziell ausnehmen wollte. Ein Kind war dazu ein perfekter Plan. Die Plantage war riesig, ihr Wert unbezahlbar. Die Weberei lief gut. Dafür hatte er in den vergangenen drei Jahren hart gearbeitet. Es ging ihnen so gut wie nie. Mit ihren Baumwollstoffen, die ganz ohne Chemie auskamen, hatten sie eine große Lücke im Markt gefunden. Inzwischen war die Baumwolldynastie Morgan nicht nur in der Gegend, sondern weit über die Grenzen Louisianas hinaus bekannt. Geld war also durchaus bei ihm zu holen, nur würde er das nicht kampflos herausrücken.
„Was ist …“ Ethan stockte, ehe er den Satz beendete. „Was ist, wenn sie doch deine Tochter ist?“
Wie vom Donner gerührt saß Eric da. Die Frage überrannte ihn dermaßen, dass er zuerst keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ein Kind auf Cheetah Manor wäre wundervoll. Die ganze Familie freute sich auf den Familienzuwachs, doch nicht in seinem Haus. Er sollte in vier Monaten Onkel werden, und das war etwas völlig anderes, als selbst Vater zu sein.
„Du weißt, wann die ersten Anzeichen auftreten und was das im Leben eines Kindes anrichten kann.“
Wütend funkelte er Ethan an. Ja, Eric hatte es selbst durchgemacht, wusste sehr gut, was das bedeutete. Dennoch würde er nicht einem wildfremden Kind gestatten, sein Leben auf den Kopf zu stellen. Und wenn dieses Kind doch von ihm war? Der leise Zweifel war gesät, und sosehr er auch versuchte, ihn abzuschütteln, es wollte ihm einfach nicht gelingen.
„Glaubst du, ich könnte eine Tochter haben?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Ich habe keine Ahnung“, gestand Ethan. „Aber ausschließen würde ich es nicht. Überlege dir, wie du damit umgehst, wenn Kathlyn tatsächlich dein Kind ist.“
Bei der Erwähnung ihres Namens regte sich der Gepard in ihm, stellte die Nackenhaare auf. Es wurde immer realer, greifbarer. „Wenn Kathlyn wirklich von mir ist, werde ich mich selbstverständlich zur Vaterschaft bekennen.“ Aber so weit würde es nicht kommen.
„Das reicht nicht. Früher oder später wird sie sich verwandeln, und dann braucht sie eine Umgebung, wo sie sicher ist und wo ihr jemand erklärt, was mit ihr geschieht.“
„Du meinst, ich soll sie nach Cheetah Manor holen?“ Allein die Vorstellung erschreckte ihn. Er hatte doch keine Ahnung von Kindern. Woher sollte er wissen, was ein fünfjähriges Mädchen überhaupt brauchte? Außerdem musste er arbeiten. Er müsste also jemanden aus dem Dorf anstellen, der sich um das Kind kümmerte. Welche Mutter war so unvernünftig und brachte ihr Kind in so eine ausweglose Position? Wie konnte Amber Perry es wagen, bei einem Autounfall zu sterben?
„Kannst du mir alles über diese Frau zukommen lassen?“ Er musste wissen, wer diese Person war. Vielleicht war sie nur eine Hochstaplerin, die ihren Tod vorgetäuscht hatte. Aber so richtig machte das alles keinen Sinn. Ethan kannte die besten Privatdetektive, und wenn es etwas über Amber Perry gab, würden sie es herausfinden.
„Natürlich, kein Problem.“ Ethan notierte den Namen in seinem Handy. „Ich schicke dir in den nächsten Tagen alles zu.“
„Danke“, murmelte Eric. „Wie lange wird der Vaterschaftstest dauern?“
Ethan winkte ab. „Das geht relativ flott. Ein paar Tage, bis wir die Genehmigung vom Gericht haben. Mit ein paar Scheinchen noch mal ein paar Tage, bis das Ergebnis da ist.“
„Perfekt.“ Sobald er etwas mehr über Amber Perry wusste, würden sich die nächsten Schritte ergeben.
„Kann ich dir noch anderweitig behilflich sein?“, erkundigte sich Ethan.
Eric verneinte. Die Zusammenarbeit zwischen ihm und Ethan war eng. Ethan vertrat Cheetah Manor in allen juristischen Belangen. Seit Ethan mit Rayna, seiner Schwester, verheiratet und ein Teil von Cheetah Manor geworden war, hatte sich ihre Freundschaft vertieft. Auch wenn Ethan schon immer irgendwie zur Familie gehört hatte, war er jetzt ein nicht wegzudenkender Teil davon.
„Hast du etwas von den Europäern gehört?“, fragte der Anwalt in diesem Moment.
Eric schüttelte bedauernd den Kopf. Die Frist lief morgen ab. Er hatte viel Zeit in die Beziehung nach Europa investiert, hatte hart mit dem bekannten Modekonzern verhandelt und hoffte inständig, dass sie das Angebot annehmen würden. Es wäre ein herber Verlust, wenn sie sich für die Konkurrenz entschieden. Ihm war klar, dass er nicht das günstigste Angebot gemacht hatte, aber bei ihnen wurden nur gute Produkte geliefert. Das Preis-Leistungs-Verhältnis war mehr als fair. Blieb nur die Frage, ob der Kunde auf Qualität setzte oder sich mit minderwertigen Stoffen der Chowilawu-Indianer zufriedengab.
„Gut, dann mache ich mich wieder auf den Weg.“
„Grüß Rayna von mir“, bat er abwesend. „Und …“ Der Gedanke kam ihm, als Ethan schon fast zur Tür hinaus war. „… behalte es bitte vorerst für dich. Ich will die Pferde nicht unnötig scheu machen.“
„Ich rede mit niemandem über meine Mandanten, auch nicht mit Rayna.“ Etwas eingeschnappt über die Unterstellung schloss Ethan seine Aktentasche.
Eric wusste, dass sein Schwager absolut verschwiegen war und seinen Job als Anwalt äußerst ernst nahm.
„Solltest du tatsächlich ein Kind haben, ist es deine Sache, wann du es deiner Familie sagst.“
Dazu würde es hoffentlich nie kommen. Dankbar nickte er. Auf Ethan war Verlass – wie immer.
Er wartete, bis sein Schwager gegangen war, und griff noch einmal nach dem Brief vom Gericht, der ihn so aus der Bahn geworfen hatte. Vater. Er. Kopfschüttelnd saß er da. Er konnte es einfach nicht glauben. Doch wenn dieses Kind seines war, würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzen und für es da sein. Das stand außer Frage.
Nie hätte er es für möglich gehalten, noch vor Darren Vater zu werden. Darren, sein großer Bruder, der bei allem der Erste war, der immer die Nase vorn hatte. So war es schon immer gewesen. Eric hatte immer alles daran gesetzt, seinem großartigen Bruder nachzueifern und war in der Regel kläglich daran gescheitert. Besser wurde es erst, als er beschloss, nicht mit Darren die Plantage zu betreiben, sondern die Weberei zu leiten.
Darrens Kind würde in vier Monaten auf die Welt kommen. Sarah und er hatten warten wollen, bis sie ihre Anerkennung als Ärztin bekam. Danach hatte es allerdings noch ein halbes Jahr gedauert, bis sich endlich Nachwuchs ankündigte. Er freute sich ungemein für die beiden. Es war ein absolutes Wunschkind. Sarah war inzwischen nicht nur Ärztin, sondern hatte eine eigene Praxis in Cheetahville eröffnet, die sie auch nach der Geburt fortführen wollte. Es gab ja noch seine Mutter. Moira Morgan freute sich unheimlich auf ihr erstes Enkelkind und sprang gerne als Babysitter ein.
Eric erhob sich und trat ans Fenster. Sein Büro lag im ersten Stock. Unter ihm befand sich die Produktionshalle, und so drangen die vertrauten Geräusche der Maschinen zu ihm herauf. Nachdenklich blickte er über die Baumwollfelder. Die letzte Ernte war überaus reich ausgefallen, was ihnen nach den Problemen vom Vorjahr ausgesprochen gut getan hatte. Die jetzigen Pflanzen sahen gesund und kräftig aus und kündigten ein noch vielversprechenderes Jahr an.
Während Darren schon der neuen Ernte entgegenfieberte, musste er sich um die Produkte des letzten Jahres kümmern.
In Gedanken an seine Arbeit konnte er gut die privaten Probleme zur Seite schieben. Er fuhr sich durch das dichte braune Haar und schloss für einen Moment die Augen. Dem Gepard hätte es gefallen, jetzt durch das Unterholz zu streifen, doch Eric hatte Wichtigeres zu tun. Entschlossen drehte er sich um und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück.

 

Kapitel 1

Müde schloss Izusa die Tür hinter sich. Sie legte die Handtasche und die Schlüssel auf die Ablage und zog ihren Mantel aus. Sie kam sich so unsagbar dumm vor. Tränen brannten in ihren Augen, als sie aus den Schuhen schlüpfte und barfuß die Küche betrat. Im Kühlschrank fand sie eine Flasche mit gekühltem Wasser. Den ganzen Tag war sie unterwegs gewesen, hatte keine Zeit gehabt zu trinken. Ihre Kehle brannte, so trocken war sie. Großzügig goss sie sich ein und leerte das Glas mit einem Zug. Nachdem sie das Trinkglas noch einmal zur Hälfte gefüllt hatte, ließ sie sich auf den Küchenstuhl sinken und erlaubte sich für einen winzigen Moment, die Augen zu schließen. Sie war müde, so unendlich erschöpft, und hatte das Gefühl, keine Kraft mehr zum Weitermachen zu haben. Wie war es nur möglich, dass ihr Leben so aus den Fugen geriet?
Sie musste an Amber denken und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihre beste Freundin war fort. Nie wieder würden sie zusammen am Küchentisch sitzen und über ihren Tag reden. Nie wieder würden sie zusammen lachen, sich über die Erfolge des anderen freuen. Nie wieder würde Amber zurückkommen. Sie vermisste ihre Freundin so unglaublich, dass es einfach nur wehtat. Eine erste Träne fiel auf den Holztisch, weitere folgten. Als wäre die Trauer nicht schon genug, kam auch noch die Schuld dazu, die Izusa erdrückte. Alle hatten gesagt, sie könne nichts für den Unfall, schließlich war nicht sie es gewesen, die auf der Gegenfahrbahn frontal in den kleinen Honda gekracht war. Sie konnte auch nichts dafür, dass der Fahrer betrunken gewesen war. Aber sie hatte ihrer Freundin das Auto geliehen. Nur wegen ihr war Amber unterwegs gewesen. Sie hatte keine Chance gehabt auszuweichen. Izusa wusste, dass sie keine Schuld traf. Dennoch fühlte sie sich für den Tod ihrer Freundin verantwortlich.
Izusa wischte mit den Händen die Tränen fort. Sie vermisste Amber so sehr. Sie hatten alles geteilt, waren die besten Freundinnen gewesen. Damals, als sie schwanger wurde und vorübergehend nicht mehr kellnern konnte, war Izusa zu ihr gezogen. Dabei hatten sie gemerkt, dass es zwischen ihnen perfekt harmonierte. Sie hatte Amber mit dem Kind geholfen, als dieses auf die Welt kam. Das hatte sich in den letzten fünf Jahren auch nicht geändert, und so liebte sie Kathlyn wie eine eigene Tochter. Als nach dem Studium ihr Schritt in die Selbstständigkeit anstand, war Amber es gewesen, die an Izusa geglaubt hatte, die ihr Mut gemacht hatte und sie zur Bank begleitet hatte, um den Kredit zu beantragen. Ganz im Gegenteil zu ihrer Familie. Schnell verdrängte sie die unschönen Gedanken und gab sich stattdessen lieber den schönen Erinnerungen hin. Das Geld hatte sie in ein Arbeitszimmer investiert, in eine hochwertige Nähmaschine, einen großen Arbeitstisch, Schnittmusterfolie, eine Schneiderbüste mit Standfuß und natürlich eine Grundausstattung an Stoffen und Garn. Es gab zwei Möglichkeiten, ihren Traum zu verwirklichen. Sie fand einen Stofflieferanten, der sie unterstützte, oder sie schaffte es aus eigener Kraft, indem sie außergewöhnliche Kreationen entwarf. Da sie familiär bedingt die indianische Weberei nicht übergehen konnte, konzentrierte sie sich verstärkt auf die zweite Möglichkeit.
In den letzten Wochen und Monaten hatte sie beinahe ununterbrochen an ihrem Schreibtisch gesessen und eine erste Kollektion entworfen. Jedes Mal, wenn sie zu zweifeln begann, hatte Amber ihr Mut gemacht. Nur durch die Unterstützung hatte sie es geschafft, die Kollektion fertigzustellen. Der Traum, eines Tages mit den führenden Boutiquen in New Orleans zusammenzuarbeiten, war ein großes Stück näher gerückt. Doch dann hatte sie das Glück verlassen. Von jeder Boutique, bei der sie mit ihrem Anliegen vorgesprochen hatte, bekam sie eine Absage. Inzwischen hatte sie aufgehört zu zählen. Es war einfach nur frustrierend. Die Zurückweisung heute hatte sie nun völlig deprimiert. Es war die letzte vielversprechende Boutique gewesen. Nicht einmal auf Kommission hatte man ihre Kleider nehmen wollen. Die Qualität der Stoffe sei nicht gut genug. Die Weberei der Chowilawu-Indianer stellte ganz vernünftige Stoffe her. Ja, okay, die Muster waren manchmal etwas altbacken und erinnerten an die Vorjahresware der Konkurrenz. Aber da sie zeitlose Kleider nähte, hatte sie gedacht, es sei egal.
Izusa zog ein Taschentuch aus der Hosentasche hervor und putzte sich geräuschvoll die Nase. Sie musste stark sein. Für Kathlyn. Es würde schon weitergehen, sie musste nur an ihren Traum glauben. Wenn jedoch nicht bald erste Einnahmen kamen, würde ihr Traum zerplatzen wie eine Seifenblase.
Ihr war klar, dass sie die Boutiquen nicht dafür verantwortlich machen konnte. Diese brauchten ein Werbegesicht, und dafür war Izusa zu unbedeutend. Ein Kontakt in die High Society hätte ihr weitergeholfen, jemand, der ihre Kleider trug. Dadurch hätte sie sich einen Namen aufbauen können. Doch als Chowilawu-Indianerin – und dabei war es unerheblich, ob sie im Reservat lebte oder nicht – gestaltete es sich ungemein schwierig, Zugang zur weißen Gesellschaft zu bekommen.
Izusas Blick fiel auf die Uhr, und sie erschrak. Es war schon ziemlich spät, und wenn sie Kathlyn rechtzeitig vom Bus abholen wollte, musste sie sich beeilen. Hätte sie noch ein Auto gehabt, wäre sie damit zur Haltestelle gefahren, wie es die meisten Mütter taten, die ihre Kinder täglich dort abholten. Doch da sie nicht wusste, wie schnell sie regelmäßige Einnahmen haben würde, und nun allein für die Miete aufkommen musste, hatte sie es für klüger gehalten, das Geld von der Versicherung zur Seite zu legen, anstatt in ein neues Auto zu investieren. Teile davon hatte sie inzwischen auch schon gebraucht.
Hastig schlüpfte sie in die Slippers. Es war warm, und da sie nicht mehr geschäftlich unterwegs war, verzichtete sie auf den Mantel.
Die Straßen in der Gegend waren in den Nachmittagsstunden voll. Izusa hatte kein gutes Gefühl, Kathlyn allein durch die Gegend laufen zu lassen. Wenn ihr auch noch etwas geschah … nicht auszudenken. Vor allem nicht jetzt, da Izusa nur vorübergehend für das Kind sorgen durfte, bis das Gericht alle Formalitäten geprüft hatte. Die endgültige Entscheidung stand noch aus. Izusa war jedoch guter Dinge, dass sie das Sorgerecht für Kathlyn bekommen würde. Amber hatte keine Familie. Ihr Vater war ein Säufer gewesen, der die Familie früh verlassen hatte. Die Mutter war schon vor etlichen Jahren an Krebs gestorben. Geschwister oder weitere Angehörige gab es keine. Wer sollte sich also um Kathlyn kümmern?
Dass sie es tun würde, stand außer Frage. Sie hatte es Amber auf dem Sterbebett versprochen, als sie ins Krankenhaus gekommen war und die Ärzte sie für die riskante OP vorbereitet hatten. Aber auch ohne dieses Versprechen hätte sie sich für Kathlyn verantwortlich gefühlt.
Die Haltestelle war bereits in Sichtweite, als der Bus hielt und viele Kinder ausstiegen. Bei einigen standen die Mütter bereit, andere – gerade die älteren Kinder – liefen allein nach Hause. Der Bus fuhr an und fädelte sich in den Straßenverkehr ein. Sie winkte Kathlyn zu, die sich suchend umsah. Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht der Fünfjährigen, als sie Izusa entdeckte. Kathlyn war ein ernstes Kind geworden, das viel zu wenig lächelte. Es tat ihr im Herzen weh, und sie wünschte sich, dem Mädchen das Lachen zurückgeben zu können.
„Na, wie war dein Tag?“, fragte sie möglichst unbeschwert und umarmte die Kleine zur Begrüßung.
„Ganz in Ordnung“, murmelte Kathlyn abweisend, ließ es aber zu, dass Izusa ihr den Rucksack abnahm. Mit dem dunkelgrauen Rock, der weißen Bluse, der farblich abgestimmten rot-ockerfarbenen Krawatte und der roten Strickjacke sah sie einfach zuckersüß aus. Aus den zu beiden Seiten geflochtenen Zöpfen hatten sich bereits einige blonde Strähnen gelöst. Izusa unterdrückte den Drang, ihr die losen Haare hinter das Ohr zu streichen.
„Gehen wir nach Hause“, sagte sie gut gelaunt und streckte Kathlyn die Hand entgegen.
Wortlos schob sich die kleine Hand des Mädchens in ihre, als sie den Nachhauseweg antraten.

 

Kapitel 2

Eric war bewusst einige Meter entfernt stehen geblieben, hatte sich hinter einem kleinen Mäuerchen versteckt. Von dort aus konnte er die Haltestelle gut sehen. Er wartete auf den Schulbus, der jeden Moment kommen sollte. In seiner Hand hielt er ein Foto. Ethan hatte es ihm besorgt. Darauf abgebildet war ein blondes Mädchen. Kathlyn. Das Kind, das seine Tochter sein sollte. Ethan hatte gute Arbeit geleistet und eine Mappe mit allen wichtigen Informationen zusammengestellt. Amber Perry hatte als Kellnerin im Break’s gearbeitet. Als er den Namen des Clubs gelesen hatte, fiel es ihm wieder ein. Er erinnerte sich an die blonde Kellnerin. Es musste Ewigkeiten her sein. Etwas mehr als sechs Jahre, um genau zu sein. Er war in dieser Nacht mit seinen Freunden feiern gewesen. Sie waren durch etliche Nachtclubs und Bars gezogen und schließlich im Break’s gelandet. Er hatte schon einiges getrunken und schamlos mit der hübschen Kellnerin geflirtet. Auf dem Parkplatz hatte er sich gerade ein Taxi rufen wollen, als die junge Frau von ein paar üblen Typen angequatscht wurden. Als sie handgreiflich wurden und die hübsche Kellnerin mit sich ziehen wollten, hatte er das nicht ignorieren können, und so war er dazwischengegangen und hatte ihr angeboten, sie nach Hause zu begleiten.
Eine Nacht. Eine einzige verdammte Nacht. Wie war es möglich, dass diese wenigen unbedachten Stunden ihm nun dermaßen um die Ohren flogen? Mit solchen weitreichenden Folgen hatte er absolut nicht gerechnet.
Der Schulbus fuhr die Haltestelle an. Gespannt reckte er den Kopf, hielt nach dem Kind Ausschau. Immer wieder blickte er auf das Foto, verglich die Mädchen, die aus dem Bus stiegen, mit dem Bild. Da war sie. Sein Herz setzte für eine Sekunde aus, ehe es mit unvermittelter Geschwindigkeit weiterschlug. Das war Kathlyn Perry. Auf die Entfernung versuchte er Einzelheiten zu erkennen, suchte nach Details, die belegten, dass sie seine Tochter war. Natürlich stand er dafür viel zu weit weg. Der Bus fuhr weiter, und die Schüler strömten auseinander. Die meisten wurden abgeholt, die Älteren gingen allein nach Hause. Nur Kathlyn stand da und blickte sich suchend um. Aus den Unterlagen wusste er, dass Perry mit einer Freundin zusammengelebt hatte. Bei ihr war Kathlyn nun vorübergehend untergebracht. Doch wo war diese Frau? Hielt sie es nicht einmal für nötig, das Kind von der Haltestelle abzuholen? Er schlug die Akte auf, suchte darin etwas über die Mitbewohnerin. Eine gewisse Ms. Jones. Eric ärgerte sich darüber, dass Ethan nicht mehr über diese Frau in Erfahrung gebracht hatte, vermutlich war sie ihm zu unbedeutend erschienen. Er wollte wissen, wer diese Frau war, die für das Kind sorgte. Ohne es benennen zu können, hatte er dieser Mitbewohnerin gegenüber ein verdammt schlechtes Gefühl.
Die anderen Kinder waren längst zu ihren Eltern gegangen, nur Kathlyn stand noch immer an der Haltestelle. Er kniff die Augen zusammen und hatte bereits zwei Schritte auf sie zu gemacht. Eigentlich wollte er sie heute noch nicht ansprechen, sich nicht zu erkennen geben. Ethan hatte ihm eingeschärft, auf Abstand zu bleiben. Zuerst musste er mit absoluter Sicherheit wissen, dass Kathlyn seine Tochter war. Aber er konnte sie nicht allein nach Hause gehen lassen. Während er noch mit sich kämpfte, Angst hatte, dass es zu früh war, um Kathlyn anzusprechen, wünschte er sich – jetzt, da er sie sah und wusste, was für ein bezauberndes Kind sie war –, sie nach Cheetah Manor bringen zu können. Er musste unbedingt das Verfahren beschleunigen. Kathlyn gehörte nach Cheetah Manor, und je eher sie bei ihm war, umso besser. Zum ersten Mal wünschte er sich tatsächlich, dass dies alles kein Irrtum war, dass Kathlyn wirklich zu ihm gehörte. Es wurde ihm ganz warm ums Herz, und gleichzeitig wurde es auch unendlich schwer. Fühlte so ein Vater? Er wusste es nicht, aber er wusste, dass ein Kind wie sie in der Geborgenheit der Familie aufwachsen musste.
Eine große Frau, schlank mit rabenschwarzen Haaren und gebräunter Haut, wie es für die Ureinwohner des Landes typisch war, trat auf das Mädchen zu. Er blieb stehen. Verdammt. Das war eine Indianerin, die mit seiner Tochter sprach. Unwillkürlich nahm der Gepard eine Angriffshaltung ein, würde nicht zulassen, dass Kathlyn in Gefahr geriet. Doch Eric hielt das Tier zurück. Mit einer Indianerin hatte er absolut nicht gerechnet. Was machte sie bei Kathlyn? Hatten die Chowilawus von seiner Tochter Wind bekommen? Setzten sie alles daran, seiner Familie zu schaden? Es war gut, dass er stehen geblieben war und das Geschehen aus sicherer Entfernung betrachtete. Kathlyn schien die Frau zu kennen, ließ sich von ihr umarmen und sogar die Tasche abnehmen. Völlig fassungslos starrte er den beiden hinterher, die gemütlich die Straße entlanggingen.
Wer war diese Frau? Arbeitete sie für Kathlyns Familie? War Amber so vermögend gewesen, dass sie sich Personal leisten konnte? Vielleicht eine Babysitterin? Nein, er war sich ziemlich sicher, dass die Kellnerin gerade so über die Runden gekommen war.
Der Gepard lag noch immer in Lauerstellung. Indianer bedeuteten für ihn Gefahr. Die Beziehung seiner Familie zu den Chowilawus war schwierig. Er kannte die Geschichte von Daniel Morgan, seinem Vorfahren. Sein Vater hatte sie ihm oft erzählt. In einer heißen Sommernacht im Jahr 1900 brannte Morgan Manor bis auf die Grundmauern nieder. In dieser Nacht ging sein Ururgroßvater einen Pakt mit dem Land ein. Er bat um Schutz. Der Preis war hoch. Ein Geschenk und ein Fluch zugleich. Im Gegenzug versprach Daniel Morgan dem Land seinen Sohn und alle zukünftigen Kinder. Mit der Macht, die Energie von Cheetah Manor zu leiten, sie zugunsten der Familie zu nutzen, kamen auch die Cheetahs und wurden unwiderruflich ein Teil ihres Lebens.
Die Chowilawus kehrten in die Gegend zurück, bekamen von der Regierung auf der anderen Seite des Lake Maurepas ein Reservat zugeteilt. Doch das war ihnen nicht genug. Sie forderten ihr Land zurück. Sie wollten die Macht der Cheetahs für sich beanspruchen, doch Cheetah Manor schützte nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen, die auf ihm lebten. Auch wenn die Geschichte lange zurücklag, hatte sich an der Tatsache, dass die Chowilawu-Indianer das Land zurückwollten, nichts geändert.
Langsam folgte er Kahtlyn und der Frau. Die beiden bogen gerade in eine Straße ein. Wenn er sich richtig orientierte, war es zu Ambers Wohnung nicht mehr weit. Widerstand regte sich in ihm. War es nicht unverantwortlich, seine Tochter in der Obhut einer Chowilawu zu lassen? Aber war Kathlyn tatsächlich seine Tochter? Und wusste die Indianerin, dass er Kathlyns Vater war? Er musste dringend mehr über sie herausfinden. Deshalb zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte Ethans Nummer. Es klingelte gerade ein Mal, da wurde auch schon abgehoben.
„Hallo Eric. Was gibt es?“
„Du musst für mich ein paar Dinge regeln.“
„Kein Problem, leg los.“
Eric atmete tief durch. „Zuerst musst du den Vaterschaftstest beschleunigen. Es ist egal, wie viel es kostet, ich muss bis morgen wissen, ob sie meine Tochter ist.“
„Aha“, war alles, was Ethan dazu sagte. „Und weiter?“
„Wie schnell wird sich das Gericht entscheiden?“
„Nun.“ Ethan zögerte. Papier raschelte, als blätterte er in Unterlagen. „Ich kenne den Richter. Konservativ und unbestechlich.“
„Ich will ihn nicht bestechen, er soll nur schnell entscheiden. Wenn Kathlyn mein Kind ist, wird sie mir zugesprochen.“
„Warum hast du es denn plötzlich so eilig?“, wollte Ethan verwundert wissen.
„Sie ist bei einer Indianerin.“
Ethan zog scharf die Luft ein. Er wusste, was das bedeutete. „Eine Chowilawu?“
„Vermutlich“, brummte Eric.
Er registrierte, wie die Frau mit Kathlyn in einem Hauseingang verschwand, und blieb stehen. Er wollte einige Zeit verstreichen lassen, ehe er wie zufällig am Eingang vorbeilaufen und einen Blick auf das Klingelschild werfen würde.
„Hast du die Mitbewohnerin durchleuchtet?“
„Nein. Sie kam mir nicht verdächtig vor.“
„Kannst du herausfinden, wer diese Frau ist?“
„Natürlich, das ist kein Problem. Du hast die Unterlagen bis heute Abend in deinem E-Mail-Postfach.“
„Danke dir“, murmelte Eric und wollte sich gerade verabschieden.
„Und …“
Er horchte auf.
„Bitte halte dich wie besprochen zurück. Du darfst nicht mit dem Kind reden. Haben wir uns verstanden?“
„Ja“, knurrte Eric unzufrieden und legte auf. Verstimmt steckte er das Handy ein. Was fiel Ethan ein, ihn zu belehren? Er seufzte. Natürlich hatte sein Anwalt recht. Alles in ihm drängte danach, sich Kathlyn zu erkennen zu geben, und auch das Tier war kaum noch unter Kontrolle zu halten. Es fiel ihm äußerst schwer, sich zu beherrschen. Selbstverständlich konnte er nicht einfach auf Kathlyn zustürmen und sie mitnehmen, auch wenn er das am liebsten getan hätte. Leider musste sich auch Eric Morgan der Staatsgewalt Louisianas beugen. Er musste auf ein rechtskräftiges Urteil warten.
Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, schlenderte er an dem Haus vorbei. Vor dem Gebäude, in dem Kathlyn wohnte, wurde er langsamer und blieb schließlich stehen. Sein Blick suchte die Klingelschilder ab, bis Eric fand, wonach er suchte. Perry und Jones standen auf einem Klingelschild. Kein Wunder, dass Ethan bei dem Namen nicht hellhörig geworden war. Jones ließ nicht unbedingt auf indianische Abstammung schließen. Er war sich jedoch sicher, dass die Frau die Mitbewohnerin sein musste.
Um sich zu beruhigen, atmete er tief durch und ging dann weiter. Im Moment konnte er für Kathlyn nichts tun. Es kostete ihn unendlich viel Kraft, sich nicht einfach umzudrehen, zu dem Haus zurückzurennen und Sturm zu klingeln.
Er brauchte eine große Runde um den Häuserblock, um sich so weit abzureagieren, dass er zu seinem Auto zurückkehren und zurück nach Cheetah Manor fahren konnte. Der Gepard verlangte nach Auslauf. Der Mann wollte nur noch vergessen, und das war in Gestalt des Tieres am besten möglich.

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