Kapitel 1
Wochen. Monate. Jahre.
Rastus wusste nicht, wie lange er schon hier war. Ein steinernes Bett, kein Licht. Wenn er die Hände ausbreitete, berührten seine Finger den nackten Fels seines Gefängnisses. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Ab und an kam ein Wärter, öffnete die Klappe der schweren Holztür und schob einen Arm hindurch. Rastus war es egal, wem die Hand gehörte. Gierig machte er sich über das Handgelenk her, trank, so viel er konnte, ehe ihm die Nahrungsquelle wieder entzogen wurde. Sie gaben ihm nie genug, so dass er kaum zu Kräften kommen konnte und keinen Ausbruch wagen würde, aber immerhin so viel, dass er bei klarem Verstand blieb. Wenn die Holzklappe sich schloss, war er wieder auf unbestimmte Zeit allein.
Seit er das letzte Mal Blut getrunken hatte, war schon wieder viel zu lange her. Es drang zwar weder Tages- noch Mondlicht in seine Zelle, aber seit geraumer Zeit nagte der Hunger an ihm. Er konnte sich nicht erinnern, während seiner Gefangenschaft schon einmal so hungrig gewesen zu sein. Da die Zeit hier unten still stand, konnte er sich auch irren, und es waren noch nicht so viele Tage vergangen, wie er glaubte.
Rastus bewegte vorsichtig den Kopf. Die Bewegung tat seiner verspannten Muskulatur gut. Er stand auf und lockerte seine Schultern. Auch seine Beine waren steif.
Etwas streifte ihn. Es war kein richtiges Gefühl, eher eine Ahnung, die seine Aufmerksamkeit erregte. Rastus versuchte, sich auf seine Sinne zu konzentrieren. Ein undefinierbarer Geruch lag in der Luft. Beehrte einer der Gefängniswärter ihn mit seiner Aufmerksamkeit? Nein, das war es nicht. Es schien, als ob sich eine dunkle Nebelwand um das alte Gemäuer legte und jeden Winkel durchdrang. Er lauschte, sog die Luft tief ein, konnte diese seltsame Energie jedoch nicht näher beschreiben.
Er setzte sich, legte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Wann würde er endlich eine Chance bekommen, aus diesem verfluchten Gemäuer zu fliehen? Er konnte durchhalten, war immer zäh gewesen. Aber ohne den festen Glauben daran, dass er dieses Gefängnis überleben würde, hätte er längst aufgegeben. Es war die Einsamkeit, die ihm am meisten zu schaffen machte. Niemand, der mit ihm redete, niemand, dem er sich verbunden fühlen konnte. Sein Clangeruch hatte immer weiter abgenommen, bis er ihn schließlich nicht mehr wahrnahm. Stattdessen roch er nun nach diesem Loch. Er fühlte sich wie ein clanloser Vampir, abgeschnitten von der Außenwelt. Er war nicht dafür gemacht, allein zu sein. Er brauchte ein Gegenüber. Aber außer ihm gab es keine lebende Seele in diesem dreckigen, dunklen Gemäuer. Sogar das Ungeziefer hielt sich von ihm fern, als spürte es, dass er ein mächtiges Raubtier war. Seine Zähne waren ständig ausgefahren, und auch seine Augen hatten den besonderen Glanz seiner Spezies angenommen. Er war zu hungrig, um seinen Körper zu kontrollieren.
Rastus ballte die Hände zu Fäusten. Diesem alten Vampir wäre er gerne gegenübergetreten. Den hätte er liebend gern in die Finger bekommen. Seine Faust schnellte auf die Liege nieder. Die Wucht des Aufpralls spürte er bis in die Schultern. Er hätte den Alten genüsslich zwischen seinen Händen zermalmt, zerquetscht wie eine Made. Ihn, der laut der Aussage seiner Schwägerin Sam nicht einmal mehr Zähne im Mund hatte, um sich zu nähren.
Rastus lachte laut. Seine Stimme hörte sich fremd an, als sie von den kahlen Wänden widerhallte.
Warum hatten sie ihn nicht umgebracht? Diese Frage schwirrte immer wieder durch den Kopf. Indem er zurückgeblieben war, hatte er den anderen die Flucht ermöglicht. Er lächelte, als er daran dachte, wie sein Bruder getobt haben musste. Darius verlor nicht gerne und hasste es, wenn andere den Helden spielten. Doch diesmal war er an der Reihe gewesen. Ein einziges Mal hatte er eine Aufgabe im undurchsichtigen Plan eines mysteriösen Schöpfers gehabt. Oder war es nur der Zufall des Universums, dass er Sam, Jendrael und Arnika zur Flucht hatte verhelfen können? Er hatte aufgehört, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Um klar denken zu können, war er ohnehin viel zu hungrig.
Ein Geräusch ließ Rastus den Kopf heben. Er lauschte angestrengt. Hatte er sich verhört? Nichts als Stille umgab ihn. Nur dieser undurchdringliche Nebel, der in alle Poren des alten Gemäuers kroch. Rastus konzentrierte sich darauf, versuchte zu erspüren, wo diese Kraft ihren Ursprung hatte. Doch er war geschwächt und viel zu müde. So ließ er es schließlich bleiben. Wenn einer seiner Gefängnisaufseher käme, um ihm die nächste Mahlzeit zu reichen, würde er nachfragen. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen, denn er wusste nur zu gut, dass er zu ungeduldig und zu hungrig war. Er würde nicht warten können, bis der Wärter ihm eine Antwort gab, sondern seine Zähne in das menschliche Fleisch graben, sobald das Handgelenk durch die Öffnung hindurchgeschoben wurde. Schon jetzt lief ihm bei dem Gedanken an frisches Blut das Wasser im Mund zusammen.
Verflucht, war er ausgehungert! Auch wenn der Hunger an ihm nagte, wusste er, es würde ihn nicht umbringen. Vampire verhungerten nicht. Bevor sein Körper alle Energiereserven aufbrauchte, würde er automatisch in eine Starre, dem tierischen Winterschlaf ähnlich, verfallen. Die nötigsten Körperfunktionen würden aufrechterhalten, alles andere vorübergehend eingestellt werden. Er hatte das zum Glück noch nie am eigenen Leib erlebt und wenn er ehrlich war, legte er auch keinen Wert darauf, diesen Zustand zu erreichen.
Müde streckte er sich auf dem kahlen Stein aus, der ihm als Lager diente. Ein Gähnen unterdrückend, drehte er sich auf die Seite, bettete den Kopf auf den Arm und schloss die Augen. Während sein Körper hungerte und sein Geist unruhig hin und her streifte, wartete Rastus auf den erlösenden Schlaf, der ihn glücklicherweise bald übermannte.
Ein Quietschen. Augenblicklich war Rastus wach und stand senkrecht. Wie lange hatte er geschlafen? Häufig schoss er im Schlaf hoch, glaubte, dass jemand zu ihm kam. Diesmal hatte er sich das Geräusch jedoch nicht eingebildet. Die schwere eisenbeschlagene Holztür, die den Kerker vom restlichen Haus trennte, wurde aufgeschoben und verursachte das knarzende Geräusch. Frische Luft strömte zu ihm herein. Sie trug den Duft des fränkischen Clans und noch etwas anderes mit sich. Schritte waren zu hören. Rastus lauschte angestrengt und machte zwei Personen aus.
„Kein Wort, sage ich dir!“, herrschte der eine den anderen an. Sie waren weit entfernt, mussten sich noch auf der Treppe befinden, doch Rastus’ Gehör war, wie bei allen Vampiren, äußerst gut ausgeprägt.
Er konzentrierte sich ganz auf die Geräusche, versuchte ein weiteres Atemgeräusch – seine Nahrung – zu lokalisieren. Doch er hörte nur die schweren Stiefel, die über den Boden scharrten, und den langsamen, regelmäßigen Atem zweier Vampire. Sie waren noch nie zu zweit gekommen.
Da war noch etwas, das sie begleitete. Rastus brauchte einige Augenblicke, bis bei ihm der Groschen fiel. Der fremdartige Duft schien ihnen nicht nur zu folgen, sondern hüllte seine Besucher regelrecht ein. Und dann wusste er plötzlich, was es zu bedeuten hatte. Der alte Vetusta war tot. Der Geruch des Clans hatte sich verändert, nur unwesentlich, aber für seinesgleichen dennoch deutlich wahrnehmbar.
Rastus war auf der Hut. Was wollten die Vampire? Kamen sie, um ihn zu holen, ihn in die Freiheit zu entlassen? Der kleine Hoffnungsschimmer verflog ebenso schnell, wie er gekommen war. Warum sollten sie ihn einfach gehen lassen? Wussten sie überhaupt, dass er da war?
Die Vampire waren ihm nun sehr nahe. Er konnte sie durch die geschlossene Tür zwar nicht sehen, aber er hörte und roch sie.
„Hier?“, fragte der zweite Vampir.
„Ich sagte dir doch, du sollst still sein!“, herrschte der andere ihn an. „Der Befehl kam von ganz oben!“
Sie schwiegen, wie immer, wenn sie sich ihm näherten. War es, um ihm alle sozialen Kontakte zu verwehren?
Ein Schlüssel wurde unweit von ihm umgedreht, allerdings nicht seine Tür. Metall quietschte. Die Schritte polterten weiter und blieben stehen. Rastus wartete, doch er konnte die folgenden Geräusche nicht richtig einordnen. Einmal glaubte er, dass ein Nagel in Holz geschlagen wurde, aber vielleicht irrte er sich. Seine Lider waren schwer, er sehnte sich nach Schlaf. Solange diese Unbekannten in seiner Nähe waren, würde er sich nicht erlauben, nachlässig zu sein.
„Fertig!“, stellte der Jüngere schließlich fest und bekam ein wütendes Zischen als Antwort.
Rastus ließ die Tür nicht aus den Augen. Würde sie sich öffnen? Hatten sie doch irgendwo eine Mahlzeit für ihn dabei? Seine Zunge klebte unangenehm am Gaumen, und sein Hals brannte. Doch die Tür öffnete sich nicht, und die Schritte entfernten sich.
Frustriert sank er in sich zusammen. Hätte er auf sich aufmerksam machen sollen? Aber was hätte das schon genützt?
Die schwere Tür schloss sich hinter den Männern, und er war wieder verlassen. Erschöpft sank er auf sein Nachtlager. Seine Augen schlossen sich von allein und noch ehe er einmal Luftholen konnte, war er eingeschlafen.
* * *
Es war weit nach Mitternacht, als ein schwarzer Mercedes die Privatstraße entlangfuhr, die zum Château de Potestas führte. Etina saß stumm auf dem Rücksitz und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Der eindrucksvolle Vampir hinter dem Steuer, dessen Oberarme dicker als ihre Schenkel waren, hatte sie von dem Landsitz abgeholt, auf dem sie seit Jahren lebte. Schweigend hatte er ihr eine kurze Notiz von ihrem Homen überreicht und gewartet, bis sie die nötigsten Sachen zusammengepackt hatte. Was machte sie hier? Warum hatte der Dan sie herbestellt? Das flaue Gefühl in ihrem Magen ließ nicht nach. Sie hasste diesen Ort, hasste alles, was damit zusammenhing. Es war Jahre her, seit sie das letzte Mal herkommen musste. Damals war sie in Begleitung ihres Homen hier gewesen. Der Vetusta hatte sie herzitiert, um sein erstes legitimes Enkelkind zu sehen.
Der Mercedes bremste ab. Ein schmiedeeisernes Tor versperrte ihnen die Weiterfahrt und wurde nun eilig geöffnet. Der Fahrer nickte den Wache schiebenden Vampiren zu, dann setzten sie ihren Weg fort.
Der abartige Geruch nach Exkrementen und Mensch lag in der Luft. Übelkeit erfasste Etina, und sie musste sich beherrschen, sich nicht zu übergeben. Gut, dass ihre letzte Mahlzeit schon einige Tage zurücklag. Etinas Finger verkrampften sich in ihrem Schoß. Sie hielt den Blick gesenkt, wollte nicht sehen, was sich draußen neben dem Auto abspielte. Als sie aus den Augenwinkeln die dünnen Arme sah, die sich dem Wagen entgegenreckten, schloss sie die Augen und betete, dass sie schnell den Zwinger passiert hätten.
Warum war sie hier? Warum hatte Sebum sie auf das Château bringen lassen? Seit über einem Jahr hatte sie Sebum nicht gesehen. Er hatte ihr erlaubt, in Reims zu bleiben, und sie war dankbar gewesen, mit ihm nicht nach Paris gehen zu müssen. Sie hasste Paris. Es war laut und überfüllt. Sie liebte die Abgeschiedenheit ihres Hauses in Reims. Vier Dienstboten, die sich um all ihre Belange kümmerten. Nicht mehr und nicht weniger. Sie war froh, wenn sie niemanden sehen musste. Lediglich über Itans Gesellschaft hätte sie sich gefreut. Doch ihr Sohn war ihr in den letzten Jahren immer mehr entglitten. Seit einem halben Jahr lebte er in Fredrikstad, in der Nähe von Vetusta Haldor. Sie hatte nicht gewagt, sich dazu zu äußern, aber dennoch missfiel ihr das Tauschgeschäft, das Sebum mit dem Sjütischen Blutfürsten geschlossen hatte. Als Pfand der eigene Sohn. Etina hoffte, dass es Itan gut ging und er bald wieder nach Hause kommen durfte.
Das Auto wurde langsamer, als sie durch das steinerne Tor in den Innenhof des Château fuhren und schließlich vor dem Haupthaus hielten. Etina blieb sitzen. So absurd der Gedanke auch war, hoffte sie inständig, dass der Fahrer es sich anders überlegen und sie zurück nach Reims bringen würde.
Die Tür neben ihr wurde geöffnet. Der Fahrer streckte ihr die Hand entgegen. Etina ignorierte sein Angebot und ließ sich Zeit, während sie die weißen Handschuhe über die Hände zog. Dann stieg sie aus. Sie hasste es, von Fremden angefasst zu werden, und dieser Mann gehörte dazu.
Sie strich den dunkelgrünen Bleistiftrock glatt und zupfte an dem gleichfarbigen Blazer herum. Da sie wusste, dass Sebum Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte, hoffte sie, dass ihre roten Haare im streng zurückgebundenen Dutt noch vorzeigbar waren. Während sie sich an ihre kleine Handtasche klammerte, sah sie sich suchend um. Die Gebäude um sie herum sahen heruntergewirtschaftet und unbewohnt aus. Es schien, als hätte der Alte sämtliche anstehenden Reparaturen geflissentlich ignoriert.
„Bitte, hier entlang, Mi.“ Der Fahrer deutete auf einen Eingang direkt vor ihr. Die Holztür hing etwas schief in den Angeln. Der dahinter liegende Gang war dunkel und wenig einladend. Etina schluckte ihre Verzweiflung hinunter, streckte den Rücken durch und betrat das Gebäude. Sie spürte, wie ihr der Fahrer folgte. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Er war hochgewachsen, trug eine enge Lederhose zu einem weißen Hemd. Unter seinem weiten Mantel mussten Waffen verborgen sein. Hin und wieder hatte sie es blitzen sehen. Nähere Bekanntschaft musste sie mit diesen Utensilien hoffentlich nicht machen.
Ihre Augen hatten sich schnell an die dunkle Umgebung gewöhnt. Dank ihrer ausgeprägten Sinne sah sie auch bei dem spärlichen Mondlicht, das durch die Schießscharten fiel, ausgezeichnet.
Der Gang, der sie immer weiter in das verfallene Gebäude führte, schien nicht enden zu wollen. Drei Mal passierten sie eine Abzweigung, aber ihr Begleiter wies sie jedes Mal an weiterzugehen. Schließlich erreichten sie einen größeren Raum. An den steinernen Wänden hingen vergilbte Teppiche. Ein verblassender Geruch hing in dem alten Gemäuer. Sie kannte den Duft des Clans nur zu gut. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die riesige zweiflügelige Holztür, an der sich ihr Chauffeur zu schaffen machte.
Sie wusste, was dahinter lag. Die große Halle war das Herzstück des Château, der Lieblingsaufenthalt des Vetusta. Auch ohne sie zu sehen, spürte Etina die geballte Präsenz etlicher männlicher Vampire.
„Bitte!“, forderte der Fahrer sie auf und wartete darauf, dass sie eintrat.
Etina zögerte. Sie war nervös. Ihren ganzen Mut zusammenfassend betrat sie die Halle.
Das Erste, was sie sah, war der leere, steinerne Thron am anderen Ende des Raumes. Wo war der Vetusta? Nicht, dass sie sich um ihren Schwiegervater sorgte. Der Alte war ein Scheusal, dem es nur um Macht und seinen eigenen Vorteil ging.
Langsam ging Etina auf den Thron zu. Links davon standen einige Vampire zusammen und unterhielten sich angeregt. In ihrer Mitte auf einem kleinen Tisch waren einige Karten ausgebreitet. Einer der Männer löste sich aus der Gruppe und kam auf sie zu. Es war Dan Sebum, ihr Homen.
„Da bist du ja endlich!“
Etina senkte den Kopf. Er hatte keine Frage gestellt, also musste sie keine Antwort geben.
Mit schnellen Schritten kam er auf sie zu, riss sie unsanft an sich und raubte ihr einen Kuss. Von seinen feuchten Lippen wurde ihr übel. Sie unterdrückte den Brechreiz und brachte ein gezwungenes Lächeln zustande.
Seinen Arm fest um ihre Mitte geschlungen, führte er sie zu den anderen Männern.
„Meine Samera ist eingetroffen“, verkündete er stolz und fuhr ihr besitzergreifend mit der Hand über den entblößten Nacken.
Diese eindeutigen Besitzbekundungen seinerseits waren ihr unangenehm. Betreten sah sie zu Boden, inspizierte interessiert die Stiefel der anwesenden Vampire. Sie wagte es nicht, sie anzusehen, wollte nicht von ihnen gesehen werden. Was wollte Sebum von ihr? Warum hatte er sie herbringen lassen?
„Gut siehst du aus“, stellte er zufrieden fest. Seine Hand wanderte weiter, ihr Dekolletee hinab. Sie schluckte, als Panik sie ergriff. Es kostete sie ihre gesamte Willenskraft, um nicht aufzuschreien. Sie waren in diesem Raum nicht allein. Es war schon schlimm genug, wenn sie seine Nähe ertragen musste, solange sie sich hinter verschlossenen Türen aufhielten. Die meisten der Vampire hatten sich gelangweilt wieder den Karten zugewandt. Nur einer, ein schmaler Vampir mit wilder Mähne und einem blonden Vollbart, warf ihr anzügliche Blicke zu und besaß sogar die Frechheit, sich dabei ungeniert in den Schritt zu langen.
Sebums Hand hatte ihre Brust erreicht und knetete diese. Reglos ließ Etina seine Aufdringlichkeiten über sich ergehen. Er war schließlich ihr Homen, und sie war dazu erzogen worden, seinen Wünschen zu entsprechen.
Seine Lippen näherten sich ihrem Hals, schnupperten an ihr, ehe er sich ihrem Ohr zuwandte.
„In den nächsten Tagen werden wir sicher die Zeit finden, dass du mir einen weiteren Sohn schenken kannst.“ Seine widerliche Zunge glitt in ihr Ohr, und Etina schloss angeekelt die Augen. Sie zählte die Sekunden und bei zweiunddreißig ließ er endlich vor ihr ab.
„Du bist sicher müde“, sagte er nachsichtig und blickte sich um. Wie aus dem Nichts stand ihr vampirischer Fahrer neben Etina.
„Decker wird dir dein Zimmer zeigen. Ruh dich aus, ich muss hier noch einige Dinge erledigen, dann werden wir unser Wiedersehen gebührend feiern.“ Mit einem anzüglichen Grinsen auf dem Gesicht drehte er sich zu seinen Männern. „Also, machen wir weiter.“
Decker, immerhin wusste sie nun, wie er hieß, wartete, bis sie sich ihm zuwandte.
„Ich bringe dich in dein Zimmer, Mi“, erklärte er ruhig und wartete, bis sich Etina mit einem letzten Blick auf die Vampire umdrehte. Diesmal ging er voran, führte sie durch den Gang zurück, bog dann aber ab. Über eine schmale Treppe gelangten sie ins obere Stockwerk. Hier war es ein wenig heller, was wohl daran lag, dass es hier Fenster gab. Sie waren ohne Scheiben, und Etina fragte sich unwillkürlich, wie diese bei Tageslicht abgedunkelt werden konnten. Zu ihrer Linken befanden sich etliche Türen. Decker öffnete eine von ihnen und ließ sie eintreten. Er folgte ihr nicht, sondern blieb am Türrahmen stehen. Ihr sollte es recht sein. Sie war froh, wenn kein männlicher Vertreter ihrer Rasse ihr Zimmer betrat.
„Ich bin vor der Tür, falls etwas sein sollte“, erklärte er steif und schloss die Holztür hinter ihr.
Unschlüssig stand sie noch immer an derselben Stelle und betrachtete die wenigen Habseligkeiten, die dem Raum kaum Gemütlichkeit verleihen konnten.
Den Mittelpunkt des Zimmers bildete ein kleines, schmales Bett, dessen Matratze auf Brusthöhe lag. Wie sollte sie dort nur hinaufkommen? Das massive Holzgestell hatte eindeutig schon bessere Tage erlebt, ebenso wie der löchrige Baldachin darüber. Eine Kommode, ein leerer Schminktisch mit blindem Spiegel und einem zierlichen Schemel davor vervollständigten die karge Möblierung. Das konnte nicht Sebums Ernst sein. Er hatte sie nicht wirklich auf dieses verfluchte Château geschleift, um in diesem Loch zu hausen. Ruckartig drehte Etina sich um und riss die Tür auf.
Decker, der mit dem Rücken zu ihr stand, drehte sich überrascht um. Einen Moment begegneten sich ihre Blicke, dann senkte Etina den Kopf.
„Besteht die Möglichkeit, den Dan zu sprechen?“ Ihre Stimme zitterte leicht, und sie hasste sich dafür, dass der Vampir ihre Unsicherheit sehen konnte.
„Der zukünftige Vetusta ist ziemlich beschäftigt. Er muss etliche Dinge in die Wege leiten.“
Etina erstarrte.
„Der Vetusta ist tot?“, flüsterte sie erschrocken, und plötzlich ergab alles Sinn. Der alte Vetusta lebte nicht mehr. Sebum war hier, um seinen Platz einzunehmen. Etina zog hörbar die Luft ein. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter, als sie daran dachte, wie Sebum diesen steinernen Thron zukünftig für sich beanspruchen würde. Mit allen Privilegien und Rechten, die es beinhaltete. Die Übelkeit schien bei ihr zu einem ständigen Begleiter zu werden. Eilig trat sie den Rücktritt an, verriegelte die Tür hinter sich, ehe sie am Boden zusammensank. Tränen hatte sie keine mehr – schon seit Jahren nicht mehr. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, und hatte sich doch sehnlichst gewünscht, ihn nicht zu erleben. Sebum war ein Tyrann. Als Dan und Stellvertreter des Blutfürsten hatte er in den letzten Jahren bereits zu viel Macht besessen. Viele hatten darunter leiden müssen. Wenn er nun den Thron bestieg, lag das Schicksal der fränkischen Vampire allein in seinen Händen.
Eine furchtbare Vorstellung.
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