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Der Aufräumer – Leseprobe

Kapitel 1

Ein schwarzer Bus mit getönten Scheiben hielt in einer kleinen Seitenstraße in der Nähe des LDC-Towers.
Isada umklammerte ihren Laptop. Rico, der Fahrer des Busses, blieb sitzen, während die Vampirin nach hinten kletterte und sich zu den zwei Männern setzte. Ihre Mienen zeigten Entschlossenheit. Jeder von ihnen wusste, worum es ging. Isada klappte den Computer auf, und sofort erschien der 3D-Lageplan des Towers. Angespannt konzentrierte sie sich auf den Bildschirm. Jetzt durfte nichts mehr schiefgehen. Die Technik hatte sie so oft überprüft. Erleichtert atmete Isada auf, als zwei blinkende Punkte aufleuchteten, die sich noch ein ganzes Stück vom Tower entfernt befanden. Um genau zu sein, befanden die Punkte sich genau an der Stelle, an der sie ihren Bus geparkt hatten. Isada blickte auf, musterte Rave und Vario, die beide einen Chip bei sich trugen, mit dem sie jeden ihrer Schritte genauestens verfolgen konnte.
„Ihr könnt los.“
Rave und Vario sahen sich an.
„Hast du den Stick?“, fragte Rave.
Vario griff in seine Tasche, zog die wenige Zentimeter große Speicherkarte hervor und verstaute sie sicher.
„Gehen wir.“ Rave zog die Kapuze seiner Trainingsjacke über den Kopf und stieg aus.
Vario folgte ihm. Die Tür des Busses schlug hinter den beiden Vampiren zu. Isada und Rico blieben allein zurück.
Isada verfolgte auf ihrem Bildschirm, wie sich die zwei Punkte dem LDC-Tower näherten.
Es war still im Bus. Nur das unregelmäßige Trommeln von Ricos Fingern auf dem Lenkrad war zu hören.
„Kannst du bitte damit aufhören?“ Isada war genervt. Das Projekt zu begleiten kostete Konzentration.
Ihre Blicke begegneten sich im Rückspiegel. Die Anspannung stand nicht nur ihr ins Gesicht geschrieben. Rico knurrte, nahm seine Hände jedoch vom Lenkrad.
Isada griff nach dem In-Ear-Monitoring und steckte es sich an. Vario und Rave befanden sich nun direkt vor dem Eingang des Towers. Sie überbrückte die Sicherheitskameras und spielte das Video der vergangenen Nacht ein.
„Wir betreten jetzt das Gebäude“, hörte sie Rave sagen.
Isada blickte kurz auf die Uhr. Sie befanden sich perfekt im Zeitplan. Es war weit nach Mitternacht, die Straßen und der LDC-Tower wirkten wie ausgestorben.
„Ich bin im Aufzug“, sagte Vario in diesem Moment.
Isada stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es lief besser als gedacht. Sie hatten nicht genau gewusst, ob es Vario gelingen würde, mit dem Aufzug nach oben zu fahren. Wäre er über das Treppenhaus gegangen, hätte das beim Wachpersonal, das sich auch zu später Stunde noch im Gebäude befand, Aufmerksamkeit erregt.
Während sich Varios blinkender Punkt in der 3D-Animation in die Höhe erhob, blieb Raves in der Eingangshalle.
Isada hatte sich vor Ort alles genauestens angesehen. Hinter dem großen Tresen an den zwei Schaltern saßen tagsüber zwei Sicherheitsbeamte, nachts nur einer. Einige Grünpflanzen und ein Zeitungsständer schirmten den Wartebereich ein wenig ab. Und genau dort musste sich Rave in diesem Augenblick aufhalten.
Schier endlos schien es zu dauern, bis Vario das oberste Stockwerk erreichte. Zu Fuß wäre er natürlich deutlich schneller gewesen.
„Ich bin da“, kommentierte Vario und fluchte im nächsten Moment. „Ich brauche einen Zugangscode“, erklärte er.
Isada zoomte den Bereich, in dem Vario sich befand, näher heran. „Das kann nicht sein.“ Fieberhaft suchte sie eine Erklärung für die verschlossene Tür, die nicht eingezeichnet war und die es demzufolge nicht geben dürfte.
„Ich kann den Wachmann befragen?“, schlug Rave vor.
„Nein“, entgegnete Isada rasch. Sie wollte nicht, dass das Projekt gefährdet wurde. „In welchem Stockwerk bist du?“
„Im obersten“, antwortete Vario genervt.
„Im wievielten Stockwerk genau?“, wiederholte sie ihre Frage eindringlich. Sie hörte Varios Stöhnen.
„Warte, ich sehe im Aufzug nach.“
Es dauerte etwas. „Siebenundzwanzig“, meinte er dann ungeduldig.
Isada verkleinerte das Bild vor sich, sodass sie das komplette Gebäude betrachten konnte. Sie musste nachdenken – schnell.
Eine Vermutung keimte in ihr auf. Sie zählte noch einmal die Stockwerke und kam wie Vario auf siebenundzwanzig. Entschlossen klappte sie den Laptop zu und schob die Bustür auf.
„Nicht, Isada. Was machst du?“, rief Rico ihr hinterher.
Isada reagierte nicht, sondern schloss geräuschvoll die Bustür. Dann rannte sie auch schon mit dem Computer unter dem Arm in Richtung des Gebäudekomplexes, in dem sich Vario und Rave befanden.
Als der Tower sichtbar wurde, blieb Isada stehen und begann die Stockwerke abermals abzuzählen. Diesmal anhand der Fenster. Sie stutzte und begann noch einmal von Neuem zu zählen. Nun war sie sich ganz sicher.
„Du musst in den achtundzwanzigsten Stock.“
Schweigen.
„Hast du mich verstanden?“, fragte Isada nach.
„Du sagtest, ich soll ganz nach oben fahren, das habe ich gemacht. In diesem Gebäude gibt es kein weiteres Stockwerk.“
„Doch“, beharrte Isada.
Vario schnaubte: „Ich stehe hier im Aufzug. Es gibt genau siebenundzwanzig Stockwerke, ein Erdgeschoss und zwei Kellergeschosse.“
„Ich stehe hier vor dem Gebäude und habe nachgezählt. Es gibt einen achtundzwanzigsten Stock“, erklärte Isada noch einmal. Die Unruhe in ihr wuchs. Ein Blick auf die Uhr, und sie wusste, dass sie dem Zeitplan mittlerweile um acht Minuten hinterher hinkten.
„Versuch es über das Treppenhaus“, schlug Rave vor.
„Okay.“
Isada sah sich um. Sie brauchte einen Platz, an dem sie ungestört die Operation weiterverfolgen konnte. Sich hier auf der öffentlicher Straße aufzuhalten, war nicht unbedingt klug, die Zeit reichte jedoch nicht, um zurück zum Bus zu laufen. So blieb ihr nichts anderes übrig, als den Einsatz von hier aus zu überwachen.
Nicht weit entfernt entdeckte Isada ein Steakhouse mit einer großzügigen Terrasse. Das Geschäft hatte längst geschlossen, die Sonnenschirme waren eingeklappt und die Stühle zusammengestellt. Isada setzte sich auf die Terrassenbegrenzung. Die Sträucher hinter ihr boten Schutz, dass niemand ihr über die Schulter blicken konnte. Eilig klappte sie den Laptop wieder auf und sah, wie Varios Punkt sich dem Dach näherte. Sie blickte hinauf, konnte von hier unten jedoch nichts sehen.
„Bist du auf dem Dach?“
„Nein. Du hattest recht, es gibt hier noch ein weiteres Stockwerk.“
Erleichtert atmete Isada aus. Wie konnte ihr so etwas während der Vorbereitungen entgangen sein?
„Ich bin jetzt oben. Hier ist eine massive Stahltür mit einem Sicherheitsschloss. Ich brauche eine Chipkarte, um hineinzukommen.“
„Mist!“ Isada lagen noch weit schlimmere Schimpfwörter auf der Zunge, die sie tapfer hinunterschluckte. Ihre Finger bearbeiteten die Tastatur, während sie die gesammelten Dokumente durchsah, um einen Hinweis auf eine Chipkarte oder dergleichen zu bekommen.
„Ich finde einfach nichts.“ Sie klang frustriert. Wenn sie nicht fündig wurde, mussten sie die Operation abbrechen.
„Wie lange braucht die Polizei, bis sie hier sein wird?“, erkundigte sich Vario.
„Denk nicht einmal daran“, entrüstete Isada sich. „Dann wird nicht nur das Wachpersonal mitbekommen, dass etwas nicht stimmt, sondern auch die Ekklesia auf der Matte stehen.“
„Wenn du keinen Weg findest, machen wir es so“, beschloss Vario.
Isada zögerte das Unausweichliche hinaus. Sie wollte nicht klein beigeben, wollte nicht aufgeben, doch schließlich tat sie genau das. „Wir brechen ab.“
„Nein!“, verkündeten Vario und Rave gleichzeitig.
„Wenn ich die Tür aufbreche, müsste bei dem Sicherheitstyp der Alarm losgehen. Kannst du dich um ihn kümmern, damit er keine Verstärkung holen kann?“, fragte Vario.
„Aber klar“, entgegnete Rave.
„Das ist zu gefährlich.“ Isada fühlte sich unwohl dabei. Das, was ihre zwei Freunde da durchziehen wollten, war hirnrissig.
„Isada, wie lange, bis die Polizei da sein wird?“ Vario ließ einfach nicht locker.
Isada schloss kurz die Augen, blickte auf den kaum beleuchteten Tower vor sich und antwortete dann resigniert: „Zehn Minuten.“
Rave fluchte. „Das wird verdammt knapp. Schaffst du das?“
„Kümmere du dich darum, dass der Wachmann niemanden ruft. Alles andere überlass mir. Das wird schon klappen.“
Isada blickte nach links und rechts. Die Straße lag verlassen vor ihnen. Weder ein Fußgänger noch ein Auto waren zu sehen. Dennoch fühlte sie sich unbehaglich.
„Ich habe es gleich“, verkündete Vario.
„Ich auch!“ Rave hörte sich nicht so überzeugt an.
Isada hatte ebenfalls kein gutes Gefühl bei der Sache. Sie zögerte ihre Zustimmung hinaus. Sie hatten geplant, den Stick anzubringen, ohne dass die Polizei – und damit auch die Ekklesia – von ihrem Eindringen erfuhr. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die einen Zoll große Speicherkarte fanden, war eher gering. Trotzdem hätte sie gerne Aufsehen vermieden.
„Also gut“, stimmte Isada schließlich zögernd zu. „Weißt du, was zu tun ist, wenn du drin bist, Vario?“
„Klar, das haben wir ja schon so oft durchgespielt. Ich bin soweit. Eins, zwei, drei.“
Isada hörte über ihren Ohrstöpsel einen Knall, Tumult brach aus, und sie konnte nicht ganz zuordnen, welche Geräusche von wem kamen. Durch den Knopf in ihrem Ohr hörte sie einen Signalton. Im zweiten Stock ging das Licht an.
„Der Wachmann ist bewusstlos und der Alarm abgeschaltet“, erklärte Rave.
Erleichtert atmete Isada kurz durch. „Beeil dich, Vario.“
Sie behielt die Countdown-Uhr stetig im Blick, ebenso Varios blinkenden Punkt, der sich auf ihrem Modell auf dem Dach befand.
„Ich bin drin“, rief Vario.
„Fuck“, brüllte Rave dazwischen.
„Was ist los?“ Aufgeregt rutschte sie auf der Steinmauer hin und her. Am liebsten hätte sie alles stehen und liegen gelassen und wäre in das Gebäude gerannt. Nur, weil ihr die Vernunft einbläute, dass so eine Aktion völlig sinnlos wäre, ließ sie es bleiben.
„Zwei Wachmänner“, keuchte Rave. „Einer davon ein Inimicus.“
Isada fühlte sich plötzlich schwer wie Blei. Die Polizei und die Ekklesia waren eine Sache, ein Inimicus eine ganz andere.
„Verschwindet!“, rief Isada aufgeregt. „Raus! Sofort!“
„Ich habe es gleich“, hörte sie Vario.
„Rave?“ Es war ihr egal, dass ihre Stimme zitterte. „Rave? Verdammt, sag etwas!“ Sie presste sich schnell eine Hand auf ihrem Mund, damit sie nicht laut aufschrie.
„Der Stick steckt. Ich schau nach Rave“, verkündete Vario.
„Nein“, flüsterte Isada fassungslos. „Schau, dass du rauskommst. Die Polizei ist gleich da.“
„Ich lass Rave nicht allein.“
Isada starrte auf den grünen Punkt, der sich schnell fortbewegte und in übermenschlicher Geschwindigkeit Stockwerk um Stockwerk zurücklegte.
„Rave?“, brüllte Vario, bekam jedoch keine Antwort.
Isadas Kehle war wie zugeschnürt. Warum antwortete Rave nicht? Sie hoffte inständig, dass er nur sein In-Ear-Monitoring verloren hatte und sich deswegen nicht meldete. Ein Inimicus, so ein Mist. Warum musste ausgerechnet ein Inimicus hier sein?
„Ich bin gleich in der Eingangshalle“, vernahm sie Varios Stimme.
Ein Poltern.
„Vario?“
„Wie lange habe ich noch?“
Schnell blickte Isada auf den Countdown. „Weniger als eine Minute.“
„Testa! Haut sofort ab. Hörst du, ihr müsst weg sein, bevor die Polizei kommt! Rave und ich kommen schon irgendwie klar.“
„Was ist mit Rave?“ Isada musste es wissen, brauchte eine Bestätigung. Auf dem Monitor sah sie, dass Vario sich nun im Eingangsbereich befand.
Dass eine Antwort ausblieb, war kein gutes Zeichen. Isada zitterte. Es war ihr unmöglich, sich zu rühren.
„Er ist tot.“
Isada schloss die Augen.
„Ihr müsst sofort losfahren“, keuchte Vario. „Ich versuche, den Inimicus aufzuhalten.“
Begleitet von Varios schweren Atemgeräuschen, dachte Isada nach. Vario vermutete sie immer noch bei Rico im Bus.
Der Countdown näherte sich dem Ende. In zwanzig Sekunden würde es hier von Polizisten wimmeln. Isada schluckte. Was sollte sie tun?
Vario schrie auf, gurgelte. Dann war nichts mehr zu hören.
„Vario?“, flüsterte sie tonlos. Nichts. „Vario?“ Tränen rannen ihr über die Wangen.
Die Eingangstür des Towers öffnete sich. Ein kleiner, aber dafür umso breiter gebauter Muskelprotz trat auf den Gehweg. Er trug eine graue Wachmannuniform. Langsam hob er die rechte Hand ans Ohr.
„Ich werde dich finden“, hörte sie eine kehlige Stimme. Die Härchen auf ihrem Körper stellten sich auf.
Der Inimicus blickte in ihre Richtung und kniff die Augen zusammen.
Es gab nichts, wo sie sich hätte verstecken können und so blieb sie einfach sitzen, tat so, als würde sie ihn nicht bemerken. Erst als er in ihre Richtung losrannte, sprang Isada auf, ließ den Laptop ins Gebüsch gleiten und stürmte los.
„Lauf nur, ich finde dich!“, hörte sie ihn in ihrem Ohr.
Eilig riss sie sich den In-Ear-Stecker heraus und schleuderte ihn auf die Straße. Sie musste den Kerl abschütteln. Unbewaffnet wie sie war, hätte sie keine Chance gegen den Inimicus, wenn dieser sie in die Finger bekam.
Isada hastete weiter, die Umgebung flog nur so dahin. Sie stolperte fast, als sie mit dem Absatz der Pumps an einer Unebenheit hängen blieb und verfluchte ihre Entscheidung, sich gegen ihre flachen Demonia-Sneakers entschieden zu haben.
Sie drehte sich vorsichtig um und schnupperte. Ein undefinierbarer Duft stieg ihr in die Nase und verwirrte ihre Sinne. Sie konnte nicht einmal sagen, ob der Inimicus sie noch verfolgte. So hastete Isada weiter. Nach den häufigen Richtungswechseln hatte sie völlig die Orientierung verloren. Erneut lief sie in eine andere Himmelsrichtung und erhaschte im Vorbeirennen einen Blick auf ein Ortsschild. Sie befand sich in South End. Die Straßen wurden kleiner, verwinkelter.
Drei Blocks später verlangsamte sie das Tempo, schnupperte noch einmal. Es roch nach Menschen, Abfall, einer Frittenbude in der Nähe und Meer. Kein Geruch, der sie verwirrte, kein Duft, den sie nicht zuordnen konnte. Sie wurde ruhiger. Der Inimicus befand sich also nicht mehr in ihrer näheren Umgebung. Suchend blickte sie sich um. South End war groß, und sie hatte noch immer keine Ahnung, wo sie genau war und wie sie von dort wieder nach Hause kommen würde.

* * *

Das grelle Blaulicht blendete Pierrick, als er aus seinem SUV stieg. Er setzte seine Sonnenbrille auf und machte sich auf den Weg in das Gebäudeinnere. Seve erwartete ihn bereits im Eingangsbereich.
„Wie ist die Lage?“, wollte er ohne Umschweife wissen und zog sich die Lederhandschuhe über.
„Zwei Tote. Rave Bagués von Soya Gregorio und Vario Karpinski von Soya Lucio. Beides Epheben. Sie haben eine Tür in der achtundzwanzigsten Etage aufgebrochen. Die Spurensicherung hat alles durchsucht, allerdings ebenso wenig gefunden wie Dale und Hadrian.“
Pierrick nickte. Es war immer gut, wenn sich seine Leute noch einmal umsahen. Menschen übersahen so viel. Nicht gut hingegen war allerdings, dass auch die zwei Vampire nichts gefunden hatten.
„FBI?“, wollte Pierrick wissen, als er die zwei ermittelnden Detectives sah, die ihm zunickten und sich dann einen Weg zu ihnen bahnten.
„Ja“, antwortete Seve knapp.
Pierrick wandte sich zu den zwei Detectives um. „Special Agent Legrand“, stellte er sich vor und reichte jedem von ihnen die Hand. „Wir übernehmen den Fall, da es sich um international gesuchte Verbrecher handelt. Mit Ihrem Chief ist bereits alles abgesprochen.“
Überrascht sahen sich die beiden Männer an.
Pierrick ging etwas um die Ecke, winkte die Detectives zu sich. Neugierig folgten sie ihm.
„Sie verstehen, dass wir das überprüfen müssen“, erklärte der Kleinere von ihnen.
„Selbstverständlich.“ Pierrick wartete, bis sie sich außer Sichtweite der anderen Menschen befanden, dann drehte er sich zu ihnen um und drang gleichzeitig in beide Köpfe ein. Er suchte nach Gedankenfetzen, die ihm weiterhelfen konnten. Es war nicht viel, was sie wussten. Im Wesentlichen hatten sie nur die zwei Ephebenleichen gesehen. Mit ihrer Arbeit waren die Detectives noch nicht sehr weit gekommen, dank dem schnellen Eingreifen seiner Männer. Anschließend tilgte er die Bilder der Toten aus den Köpfen und pflanzte dafür unbedeutende Erinnerungen ein. Ihr Chief hatte tatsächlich einen Anruf mit der Information erhalten, dass eine FBI-Sondereinheit aktiv wurde. Der Anrufer war niemand anderes als sein bester Mann, Seve, gewesen.
„Vielen Dank für Ihre Arbeit“, bedankte er sich bei den Detectives und schickte sie fort. Eilig traten sie den Rückzug an, verließen das Gebäude, ohne sich noch einmal umzublicken, stiegen in ihr Auto und brausten davon.
Pierrick ging zu Seve hinüber. Am Boden lagen die zwei Vampire. Beide waren geköpft worden.
„Inimicus?“, fragte er, während er die Epheben eingehend musterte.
„Ja.“
„Dokumentieren und aufräumen. Wissen Gregorio und Lucio schon Bescheid?“
„Noch nicht. Ich wusste nicht, ob du sie informieren möchtest.“
„Das überlasse ich dir. Ich werde Darius und Jendrael informieren.“
Seve nickte knapp und zückte sein Handy, um eine Notiz zu machen.
Gerade kamen Tilford und Sandor herein, zwei weitere Männer seines Teams, die jegliche Spuren vernichten würden.
„Ich werde mich oben umsehen“, erklärte Pierrick.
Seve zögerte kurz und entschied dann: „Ich begleite dich.“
Pierrick steuerte das Treppenhaus an. In vampirischer Geschwindigkeit ließ er Stockwerk um Stockwerk hinter sich. Seve konnte mit seinem Tempo problemlos mithalten. Als sie die oberste Etage erreichten, sah Pierrick die aufgebrochene Tür.
„Dadurch wurde der Alarm ausgelöst“, kommentierte Seve.
„Das hatte ich mir schon gedacht.“ Pierrick schob die Tür auf und betrat den Raum. Ein schmaler Gang war zu sehen. Rechts und links befanden sich deckenhohe Schränke, die mit Glastüren verschlossen waren. Dahinter befand sich das, worauf es die Epheben vermutlich abgesehen hatten.
„Die Firma Orion-Tec Security Inc. hat hier ihren Serverraum.“
Pierrick pfiff anerkennend durch die Zähne. „Nicht schlecht. Da hat wohl jemand Interesse an diesen Daten gehabt?“
Seve zuckte mit den Schultern.
„Weiß man, ob etwas fehlt?“
„Da müssten wir jemanden finden, der sich hier auskennt.“ Seve ließ seinen Blick über die unzähligen Kabel und Steckverbindungen gleiten.
Pierrick tat es ihm gleich. „Ich brauche Virus hier. Er soll sich das ansehen“, erklärte er knapp.
Seve hatte bereits das Telefon am Ohr. Deswegen schätzte er diesen Vampir als Mitarbeiter so ungemein. Er war zuverlässig, er war gründlich und was das Allerwichtigste war: Er war unglaublich schnell.
Über Pierrick schaltete sich ein Gebläse ein. Er blickte nach oben und inspizierte die Lüftung.
„Virus ist bereits auf den Weg.“ Seve steckte sein Handy wieder ein und holte Pierrick ein, der noch immer das Gebläse betrachtete. Beide Männer starrten nun auf das sich drehende Monstrum.
„Ist da etwas?“ Seve trat einen Schritt zur Seite, um einen anderen Blickwinkel auf das Objekt zu haben.
„Nein.“ Pierrick ging weiter und blieb erst stehen, als sich der Weg kreuzte. Er blickte nach rechts, runzelte die Stirn und sah nach links. Jeweils fünfundsechzig Fuß in jede Richtung. Er sah nach vorne. Bis zur Wand waren es nochmal locker dreißig Fuß. Wofür brauchte man so viel Speicherplatz?
„Welche Daten werden hier gesammelt?“, wollte Pierrick wissen.
Seve zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber ich werde es herausfinden“, erklärte er und zückte abermals sein Telefon.
Zehn Minuten später hatte Seve im Netz immer noch keine Antwort gefunden.
„Wow!“, stieß jemand begeistert hervor.
Pierrick hatte Virus bereits gerochen und wandte sich langsam zu dem Computergenie um, das inzwischen auf Darius’ Anwesen gezogen war und von dort aus die virtuellen Geschicke des Clans leitete.
„Kannst du mir sagen, was das ist?“ Pierrick machte eine allumfassende Handbewegung und hoffte darauf, dass Virus ihm ein paar Antworten liefern konnte. Sie mussten den Tatort bald räumen, und bis dahin gab es noch viel zu tun.
Virus ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und schritt bedächtig den Korridor entlang. Fasziniert strich er immer mal wieder über eine Glasfront der deckenhohen Schränke. „Unglaublich“, murmelte er ehrfürchtig.
„Was ist das hier?“ Langsam wurde Pierrick ungeduldig.
Virus ging an dem Soya vorbei, grinste dabei wie ein Kleinkind an Weihnachten und machte sich einige Meter von den anderen Vampiren entfernt zu schaffen.
Pierrick kam näher und sah, dass dort, wo Virus stand, etwas im Schrank fehlte. Gerade öffnete Virus die Glastür und stellte seinen Laptop auf den leeren Platz. Er griff nach einem Kabel, steckte es in seinen Laptop und fuhr diesen hoch.
Manchmal fragte sich Pierrick, ob diese ganze Technik nicht doch ein Fluch für sie alle war. Er mochte den Fortschritt und hatte sich ihm nie entzogen. Weder auf sein Mobiltelefon noch auf den Flatscreen in seinem Haus wollte er verzichten. Doch er kannte auch die Zeit, in der die Menschen mit Öfen heizten, Kerzen Licht spendeten und die ersten Tonaufnahmen noch in ferner Zukunft lagen. Er wünschte sich weiß Gott nicht in diese Zeit zurück, aber manchmal vermisste er die Ruhe und Gelassenheit, wie sie zu dieser Epoche geherrscht hatten.
„Wow!“, entfuhr es Virus, als er die ersten Daten auf seinem Bildschirm sah. „Das System kenne ich.“ Plötzlich war er sehr aufgeregt.
„Was ist das?“
„Hier werden sämtliche Überwachungsdaten aus ganz Boston gespeichert“, verkündete er freudestrahlend. „Ich habe mich schon öfter in ihr Netz gehackt.“
„Was wollten die Epheben hier?“, fragte Seve, der nun neben Pierrick stand.
„Woher soll ich das wissen?“ Virus konzentrierte sich auf die Daten, die über seinen Bildschirm huschten. „Den Serverraum vielleicht lahmlegen? Daten löschen? Keine Ahnung.“
„Was hätten sie davon?“, überlegte Seve laut.
Virus verfolgte die Datensätze, die sein Bildschirm ausspuckte. „Soweit ich feststellen kann, wurde das Programm weder gehackt, noch wurden Daten aus dem Speicher gelöscht.“
„Dann haben sie also ihre Aufgabe nicht zu Ende bringen können.“ Pierrick sah sich noch einmal um. Er fühlte sich hier drinnen nicht wohl. „Wenn du nichts Auffälliges feststellen kannst, gehen wir. Mach fertig.“
Seve schloss sich ihm an.
„Kümmern wir uns um die Wachleute.“
Der Vampir nickte Pierrick zu und ging voran. Während sie die Treppen ins Erdgeschoss hinabstiegen, blieb Seve stehen und drehte sich zu ihm um: „Glaubst du, die Epheben gehören den Gen Guards an?“
„Wie kommst du zu der Annahme?“
„Du hast die Gruppe heute noch kein einziges Mal erwähnt.“
Pierrick schwieg, dachte einen Moment nach und ging dann an Seve vorbei. „Das mag vielleicht daran liegen, dass mir diese Gruppierung zutiefst zuwider ist. Natürlich gehörten die Epheben den Gen Guards an. Was sonst sollten sie hier zu tun gehabt haben, als die blödsinnigen Befehle einiger irrer Vampire auszuführen, denen es egal ist, wenn sie unsere Kinder in den Tod schicken?“ Er biss die Zähne fest zusammen und versuchte damit zu verhindern, dass seine Fänge hervorschossen.
Endlich erreichten sie den Eingangsbereich. Tilford und Sandor hatten schnell und zuverlässig gearbeitet. Nichts deutete mehr auf die blutige Auseinandersetzung hin. Sämtliches Beweismaterial würde in Kürze in Flammen aufgehen und die Tat der jungen Vampire für immer verschleiern.
„Wir sind fertig“, erklärte Sandor.
Zur gleichen Zeit trat Dale durch die Tür. Während Hadrian vor der Tür Wache hielt und den Gebäudeeigentümer sowie den Direktor der Orion-Tec Security Inc. davon abhielt, das Haus zu betreten, hatte Dale die Umgebung abgesucht. Er hielt einen schwarzen Gegenstand in der Hand.
„Den Laptop habe ich gegenüber in einem Gebüsch gefunden“, erklärte er.
„Mal sehen, was Virus dazu sagt“, meinte Pierrick abweisend und machte eine ausladende Handbewegung.
„Ich bin schon da“, erklärte der blonde Vampir, schob sich an Pierrick vorbei und nahm das Gerät in Empfang.
„Ich habe die Gebäudeüberwachung der letzten Stunden heruntergeladen und gelöscht“, erklärte er freudestrahlend an Pierrick gewandt.
Dieser nickte anerkennend. Virus mochte jung sein und noch ordentlich Flausen im Kopf haben. Für einen Vampir war er gerade einen Wimpernschlag alt und hatte noch nicht einmal sein erstes halbes Jahrhundert hinter sich gebracht, aber auf dem Gebiet der modernen Technik war er unschlagbar.
„Wie lange wirst du noch brauchen?“, fragte Dale mit einem stirnrunzelnden Blick auf Hadrian, der sich vor der Tür noch immer abmühte, die zwei Männer in ihren grauen Anzügen abzuwimmeln.
„Was ist mit den Wachleuten?“, wandte sich Pierrick an Seve.
„Die warten in ihrem Pausenraum auf uns. Sind alle etwas durcheinander. Einer von ihnen hat einen ordentlichen Schlag auf den Hinterkopf bekommen und war daraufhin einige Zeit bewusstlos.“
„Ich rede kurz mit ihnen, dann sind wir hier fertig“, sagte Pierrick in Dales Richtung, der nickte und seinem Kollegen Hadrian zu Hilfe eilte.
Seve führte Pierrick in einen Raum, der sich hinter dem Empfang befand. Fünf Männer, alle in der einheitlichen grauen Uniform, warteten dort.
„Sind Sie vom FBI?“, wollte ein großer, bulliger Kerl wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. Pierrick blieb vor dem Wachmann stehen, legte den Kopf schief und sah ihn einfach nur an. Der Kerl wurde unruhig und hielt das Blickduell nur wenige Sekunden aus, ehe er den Kopf neigte.
„Wer von Ihnen hat den Schlag auf den Hinterkopf bekommen?“ Pierrick blickte fragend in die Runde.
Ein etwas dünnerer, aber dafür umso größerer Mann trat vor. An den Schläfen war er bereits leicht ergraut. „Ich“, meinte der Mann unsicher und fuhr sich über den Nacken. „Es geht aber schon wieder.“
Pierrick drang in den Kopf des Wachmannes, durchstöberte die Erinnerungen und stellte zufrieden fest, dass Rave zumindest so umsichtig gewesen war, sich nicht sehen zu lassen. Vario, der zweite Ephebe, dagegen schon. Er hatte den Aufzug betreten. Pierrick ließ die Gedankenfetzen verblassen und nahm sich den nächsten Wachmann vor. Dieser hatte allerdings nur den Alarm mitbekommen und die toten Epheben gesehen. Auch diese Erinnerung nahm Pierrick mit, ehe er zum nächsten Mann ging. Einen nach dem anderen nahm er sie sich vor, reinigte ihr Gedächtnis.
Bei dem vorletzten Wachmann hielt Pierrick einen Moment inne, verweilte ungewöhnlich lange in seinen Gedanken. Mit einem Mal war ihm der Sinn der Erinnerung klar. Der Mann vermisste seinen Kollegen. Als der Alarm ausgebrochen war, war dieser ins Erdgeschoss gegangen und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Er grub etwas tiefer und erhaschte einen Blick auf den vermissten Kollegen. Es überraschte Pierrick nicht, dass der Kerl ungewöhnlich klein war, dafür aber äußerst stämmig. Die fliehende Stirn und die breite Boxernase bestätigten Pierricks Vermutung. Es handelte sich um einen Inimicus: Acer Petterson. Den Namen würde er sich merken und alles, was es über ihn zu wissen gab, herausfinden. Pierrick wandte sich dem letzten Wachmann zu, dem Bulligen, der ihn dumm angeredet hatte. In seine Gedanken zu gelangen, war ein Spaziergang. Er war sehr einfach gestrickt und besaß kaum Abwehrmechanismen. In Kürze war er mit seiner Arbeit fertig.
Pierrick gab Seve das Zeichen zum Aufbruch und verschwand. Mit großen Schritten durchquerte er die Eingangshalle und trat in die dunkle Nacht hinaus. Sofort wurde er von dem Direktor bestürmt: „Special Agent, können Sie schon etwas sagen?“
„Soweit wir es bis jetzt beurteilen können, ist nichts passiert. Ihr Datenraum ist unversehrt. Das kaputte Türschloss kann man ersetzen. Lassen Sie Ihre Leute morgen alles überprüfen. Special Agent Nagana“, er wies auf Seve, „wird mit Ihnen in Kontakt bleiben.“
„Und das Wachpersonal?“, ereiferte sich der Gebäudebesitzer.
„Sie sind nach der Nacht erschöpft, aber außer einer Beule und Kopfschmerzen geht es ihnen gut.“
Er verabschiedete sich flüchtig von den Anzugträgern, die darauf warteten, dass die restlichen Männer das Gebäude verließen, ehe sie selbst hineinkonnten.
„Soll ich dich fahren?“, fragte Pierrick und blickte sich nach Virus um. Seine Leute waren mit einem SUV und dem geräumigen Bus gekommen.
„Nein, das ist nicht notwendig. Ich bin mit dem Auto da“, erklärte Virus und deutete auf einen dunkelroten Dodge Charger.
Während seine Leute in ihre Fahrzeuge stiegen und davonfuhren, blickte Pierrick die verlassene Straße entlang.
Er konnte sich nicht erklären, was die Epheben hier gewollt hatten, und er war sich diesmal auch nicht so sicher, dass die Gen Guards dahintersteckten. Aber das hatte er Seve gegenüber so nicht äußern wollen. Diese Aktion schien im Gegensatz zu dem bisherigen Vorgehen der Gruppe äußerst genau geplant zu sein. Wenn dieser Inimicus nicht erschienen wäre, hätte das Vorhaben ein voller Erfolg werden können.
Gedankenverloren ging er auf seinen Mercedes zu und hatte bereits die Tür geöffnet, als ihn etwas innehalten ließ. Ein vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase. Honig und reife Birne. Der Duft war sehr feminin und gehörte einer jungen Vampirin, der er in letzter Zeit gekonnt aus dem Weg gegangen war. Er atmete noch einmal tief ein und schüttelte den Kopf. Seine überreizten Sinne mussten ihm einen Streich gespielt haben, denn jetzt roch es nach Boston: Abgase, Menschen und der verwesende Gestank von Speiseresten in einer Mülltonne hinter dem Steakhouse. Er hatte bereits die Jacke ausgezogen und auf den Beifahrersitz geworfen, als er abermals den süßlichen Geruch wahrnahm und seine Umgebung taxierte. Bildete er sich ihre Anwesenheit nur ein, oder hielt sie sich tatsächlich in der Nähe auf? Wenn sie hier war, befand sie sich in Gefahr. Er musste sicher gehen, sich vergewissern, dass er sich getäuscht hatte, sonst würde er keine ruhige Minute finden. Also schlug er die Autotür wieder zu und lief zu Fuß los, immer der Duftspur nach.

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