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Der Anführer – Leseprobe

Kapitel 1

Sam stieg aus ihrem Wagen und warf die Tür hinter sich zu. Die Gegend sah heruntergekommen aus. An den Häusern bröckelte die Fassade ab, einige Fenster waren mit Holzbrettern zugenagelt, und die windschiefe Laterne, die nur spärlich die Gegend beleuchtete, neigte sich bedrohlich dem Boden entgegen. Neben ihrem Dodge, in den typischen weißblauen Polizeifarben, hielt ein schwarzer Chevrolet, dessen Seiten das Emblem des Bostoner Police Department zierte. Ein hochgewachsener Mann stieg aus. Er trug ein marineblaues Shirt mit den gelben Lettern der Forensic Science Division. Sein spärliches Haar war unter einer Kappe versteckt, die die gleiche gelbe Aufschrift wie sein Shirt trug.
„Hi Jeff! Wie geht es deiner Frau?“ Sie mochte Jeff Howard von der Spurensicherung, der vor einigen Monaten das erste Mal Vater geworden war. Er ließ sich mit Einschätzungen gerne viel Zeit, aber das, was er sagte, hatte Hand und Fuß, und deswegen schätzte sie ihn.
„Danke, bestens.“
„Kommt ihr jetzt erst?“
Ihr Kollege schüttelte den Kopf. „Andrew ist schon hier und macht Fotos.“
„Gut.“ Sie blickte stirnrunzelnd hinüber zu der Absperrung des Tatorts, wo sich bereits eine kleine Menschentraube Schaulustiger versammelt hatte und überlegte einen Moment, auf Jeff zu warten, der zu seinem Kofferraum gegangen war und diverse Utensilien aus seinem Auto holte. Sam entschied sich dagegen. Sie war müde und wollte ihren Job schnell erledigen. Eigentlich war sie schon auf dem Weg nach Hause gewesen, als man sie an diesen Tatort gerufen hatte. Wind frischte auf, wehte ein paar vertrocknete Blätter zu ihr hinüber und ließ sie frösteln. Ein Grund mehr, sich zu beeilen. Gleichzeitig ärgerte sie sich, dass sie nichts Wärmeres als ein T-Shirt und ihre Lederjacke trug. Blinkendes Blaulicht erhellte rhythmisch die Umgebung und tauchte die abgelegene Gasse in ein unheimliches Licht. Die Straße war noch feucht, aber zum Glück regnete es nicht mehr. Sam seufzte, hängte sich ihren Ausweis um den Hals und steuerte auf den Officer zu, der mit einem Klemmbrett vor der Absperrung wartete, die Schaulustigen auf Abstand haltend.
Sie nickte ihm flüchtig zu, ergriff den Stift und trug ihren Namen in das Protokoll ein. Dann schlüpfte sie unter der Absperrung hindurch. Vor den alten Mehrfamilienhäusern im Kolonialstil sah sie bereits Andrew, der fotografierte. Etwas abseits davon stand eine Gruppe von Cops zusammen, die aufgeregt miteinander diskutierten. Ein kleiner, untersetzter Mann in der dunkelblauen Polizistenuniform trat auf sie zu. An seiner Schulter hing das Funkgerät bedrohlich schief, und Sam befürchtete, es könnte jeden Moment hinunter fallen. Er schob seine Schirmmütze nach hinten, und sie konnte an seinen ergrauten Schläfen erkennen, dass er mit Abstand der Älteste der Truppe war. Die drei anderen Cops waren etwa in ihrem Alter, einer von ihnen sah sogar aus, als käme er frisch von der Akademie. Er war am nervösesten, trat unsicher von einem Fuß auf den anderen und wagte es nicht, sie anzublicken.
„Detective Forster?“, fragte der grauhaarige Polizist ungläubig, als hätte er jemand anderen erwartet.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und verzog spöttisch den Mund. Inzwischen war sie es gewohnt, erst einmal misstrauisch gemustert zu werden. Sie wusste genau, was er sah. Sam schämte sich nicht für ihr Aussehen, und es war ihr auch egal, dass sie mit ihren siebenundzwanzig Jahren noch recht jung für das Dezernat für Gewaltverbrechen war. Und noch weniger kümmerte es sie, dass sie eine Frau war. Sie war gut in ihrem Job. Darauf kam es an.
„Was gibt es?“ Ihr fragender Blick musterte die Umgebung.
Der Streifenpolizist zog wichtigtuerisch seinen Notizblock aus der zweiten Brusttasche und räusperte sich.
„Eine junge Frau. Anfang zwanzig vielleicht. Übel zugerichtet, richtig übel. Der Gerichtsmediziner meinte, jemand habe ihr die Kehle buchstäblich aufgerissen.“
„Welchen Pathologen haben sie geschickt?“, wollte Sam wissen, da sie niemanden von der Gerichtsmedizin sah.
„Dr. Westwood. Er hat sich bereits die Leiche angesehen, musste allerdings schon weiter zu einem anderen Fall.“
Sam nickte. Nicht alle aus der Gerichtsmedizin machten ihren Job so gut wie Abraham Westwood. Sehr beruhigend zu wissen, dass er für diesen Fall zuständig war.
„Was haben Sie bisher gemacht?“ Ihr Blick schweifte kurz hinüber zu den Streifenpolizisten. Inzwischen standen sechs von ihnen herum.
„Wir haben den Tatort gesichert, die Personalien der Zeugen aufgenommen, den Krankenwagen und die Gerichtsmedizin sowie die Spurensicherung und das Dezernat für Gewaltverbrechen informiert.“
Während sie sich auf den neusten Stand bringen ließ, folgte sie dem Cop weiter in die dunkle Gasse. Eine Straßenlaterne, die vor dem ehemals weißen, jetzt ergrauten mehrstöckigen Haus stand, war vollkommen ausgefallen und die wenigen Scheinwerfer, die hergeschafft worden waren, sowie die Beleuchtung der Streifenwagen erhellten die Straße nur notdürftig. Ein weiteres Absperrband versperrte den Weg. Mit einer geschmeidigen Bewegung schlüpfte sie unter dem gelben Plastikband hindurch und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie der Cop vor der Absperrung stehen blieb.
„Die Spurensicherung hat bisher nur Fotos von der Leiche gemacht. Vielleicht sollten Sie warten, bis auch der Tatort fotografiert worden ist.“
„Ich weiß, wie man sich an einem Tatort verhält“, erklärte sie ärgerlich und wandte sich dann der Leiche zu.
Es handelte sich um eine junge Frau mit blonden Haaren und eingefallenen Wangen. Die weit aufgerissenen Augen starrten anklagend in den Himmel. Sam schluckte. Ein schwarzer Minirock war weit über die Hüften geschoben, und der weiße Tanga, den sie darunter trug, hing nur noch in Fetzen an ihr. Das knappe Oberteil war blutüberströmt, aber nicht verrutscht. Durch die blutigen Flecken glitzerte es silbern, wenn das Blaulicht darüber strich. Ihre Hände wiesen Kampfspuren auf. Einige der langen Nägel waren abgebrochen, ihre Handgelenke bläulich verfärbt, und die linke Hand sah unnatürlich verdreht aus. Vermutlich hatte sie sich gegen ihren Angreifer gewehrt. Leider vergebens, wie ihre zerfetzte Kehle bewies. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend wandte Sam sich ab. Welche Qualen die Frau wohl in ihren letzten Minuten hatte erleben müssen?
Betroffen blickte Sam zur Seite. Seit einem Jahr arbeitete sie für die Mordkommission, und in dieser Zeit schon viel gesehen. An den Anblick der Leichen hatte sie sich jedoch noch immer nicht gewöhnt.
Angestrengt versuchte sie, etwas zu erkennen und ging ein paar Schritte weiter in die finstere Sackgasse hinein, peinlich darauf bedacht, keine Spuren zu verwischen. Sie spähte angestrengt in eine Ecke hinüber, erkannte aber nichts in der Dunkelheit.
Ihrem Instinkt folgend, ging sie näher, sah eine zerbrochene Holzpalette und einige herumliegende Kartons, sonst nichts. Gerade wollte sie sich wieder abwenden, als sie etwas innehalten ließ. Seitlich, halb versteckt hinter einem Karton, lag ein Gegenstand. Sam zog einen Einmalhandschuh aus ihrer Gesäßtasche und streifte ihn sich über. Zögernd, nicht scharf darauf, Bekanntschaft mit dem herumliegenden Unrat zu machen, griff sie nach dem Ding. Eine Jacke. Um genau zu sein, eine schwarze Damenjacke, für die Jahreszeit eigentlich viel zu dünn. Mit ein paar geübten Handgriffen durchsuchte sie das Beweisstück. Nichts. Weder Ausweis, noch Schlüssel oder sonst ein Hinweis auf die Identität der Besitzerin.
„So ein Mist“, murmelte Sam vor sich hin. „Das wäre auch zu schön gewesen.“
Sie winkte Jeff zu sich, der das Kleidungsstück eintütete.
„Detective Forster, einer der Zeugen lässt fragen, ob er seine Aussage jetzt gleich machen kann. Er hat wohl noch einen wichtigen Termin“, erklärte ihr der grauhaarige Gesetzeshüter, dessen Funkgerät inzwischen an seinem Gürtel, gleich neben der Waffe, hing.
Sam sah sich noch ein letztes Mal um, vergewisserte sich, dass sie nichts übersehen hatte, und ließ sich vom Polizisten zu den Zeugen führen, die außerhalb der Absperrung bei einem anderen Cop warteten.
Es waren genau drei Zeugen. Zwei junge Mädchen, die noch etwas blass um die Nase wirkten, und ein kleinerer Mann, der ihr den Rücken zuwandte.
„Mr. Hendersen hier hat noch einen Termin“, erklärte der Officer. Sam bedankte sich knapp und trat auf den Mann zu.
„Danke, dass Sie noch hier sind. Ich bin Detective …“ Die nächsten Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie den  stämmigen Mann erkannte. Ihr Mund war trocken, die Kehle wie zugeschnürt. „Leyton?“, presste sie angespannt heraus.
„Sam“, antwortete der Mann ruhig.
Ungläubig blinzelte sie, doch er verschwand nicht. Noch immer stand er vor ihr. Er hatte sich verändert. Insgesamt war er breiter geworden, nicht dick, eher muskulöser, als hätte er viel trainiert. Die Falten in seinem Gesicht waren etwas tiefer geworden, ebenso die Furchen auf der fliehenden Stirn. Hatte er früher mehr Haare gehabt? Die breite Nase und das markante Kinn erinnerten sie immer noch an einen Boxer. Ja, das war Leyton. Unverwechselbar stand er mit einer abgetragenen Lederjacke vor ihr. Und noch immer überragte sie ihn um einige Zentimeter. Jetzt lächelte er sie an und sein Lächeln war noch umwerfender, als sie es in Erinnerung hatte. Ein Kribbeln machte sich in ihrer Magengegend breit, ließ ihre Knie weich werden.
„Was machst du hier?“ Ungläubig starrte sie ihn an. Ihr erstes Zusammentreffen war eine Ewigkeit her. Sie war Leyton begegnet, als sie gerade mit der Ausbildung angefing und hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war nicht nur nett, sondern half ihr auch, sich in den ersten Monaten auf der Polizeiakademie zurechtzufinden. Zu dieser Zeit stand er kurz vor seiner letzten Prüfung. Schon damals war Leyton anders als alle anderen Männer, die sie kannte. Er war weder übermäßig gutaussehend noch besonders intelligent und hatte trotzdem etwas Anziehendes an sich.
„Ich bin dein Zeuge“, half er ihr auf die Sprünge. Im Gegensatz zu ihr schien er nicht im Mindesten davon überrascht zu sein, sie hier anzutreffen. Sein scharfer Blick musterte sie von oben bis unten.
„Du siehst gut aus.“ Sam schluckte. Unwillkürlich erinnerte sie sich daran, wie es sich angefühlt hatte, ihren Körper an seinen zu pressen. Himmel, woran dachte sie? Beschämt über ihre Gedanken kaute sie auf ihrer Unterlippe.
„Danke“, brachte sie gepresst heraus.
Ja, es war wirklich lange her. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit. Zuerst waren sie nur essen gegangen und dabei gute Freunde geworden. Doch dann hatten sich ihre Gefühle füreinander geändert, waren tiefer geworden. Bei Leyton hatte sie sich das erste Mal als richtige Frau gefühlt – begehrt und umworben. Es war ihre erste längere Beziehung, und der Sex mit ihm war, im Gegensatz zu den flüchtigen Teenager-Bekanntschaften, der Himmel auf Erden gewesen. Die Erinnerungen an damals ließen ihr Herz auch jetzt wieder schneller schlagen. Sie hatte immer geglaubt, er sei der Mann ihres Lebens. Aber eines Tages war er einfach nicht mehr bei ihr aufgetaucht. Seine Wohnung war leer und Leyton spurlos verschwunden gewesen. Erst hatte sie ihn in Schutz genommen und nach Entschuldigungen gesucht. Nachdem ihr diese ausgegangen waren, kam die unbändige Wut, gefolgt von Hilflosigkeit und Trauer. Und eines Tages hatte sie beschlossen, nicht mehr an ihn zu denken. Dieser Lebensabschnitt war vorbei. Jetzt, Jahre später, war sie lange über ihn hinweg, hatte sie bisher zumindest gedacht. So wie über alle anderen Männer, die es bisher in ihrem Leben nach Leyton gegeben hatte.
„Sie kennen sich?“, fragte der Polizeibeamte verdutzt. Augenblicklich kehrte Sam in die Realität zurück.
„Wir waren zusammen auf der Polizeiakademie.“ Sie blickte Leyton immer noch an, während sie den Officer aufklärte. „Bringen wir es hinter uns.“ Mit einem Kopfnicken deutete sie in Richtung ihres Dodges, der hinter der nächsten Ecke parkte. Sam brauchte einen klaren Kopf und hoffte, dass ihr ein paar Schritte helfen würden. Davon abgesehen wollte sie mit Leyton alleine reden, ohne dass ein Streifenpolizist danebenstand und seinen Senf dazugab.
Sie konnte spüren, wie Leyton ihr folgte, fühlte seine Anwesenheit bei jeder Bewegung. Im Scheinwerferlicht eines Polizeiwagens, einige Meter von ihrem eigenen Fahrzeug entfernt, blieb sie stehen und wandte sich zu Leyton um.
„Du hast es also geschafft“, kam er ihr zuvor, ehe sie die erste Frage stellen konnte.
Befangen drehte sie sich ein wenig von ihm weg, sah hinüber zu den Schaulustigen, die, angezogen von dem Spektakel, immer mehr wurden. Er hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht, und das gefiel ihr überhaupt nicht. „Ich würde gerne anfangen. Meine Zeit ist knapp“, versuchte sie auszuweichen. Aus ihrer Brusttasche holte sie den kleinen Notizblock und einen Stift.
„Bist du allein hier?“, hakte er nach.
Unvermittelt blickte sie ihn jetzt an, zog scharf die Luft ein. „Dir bin ich keine Rechenschaft schuldig.“ Inständig hoffte Sam, dass sie sich nicht so kläglich anhörte, wie sie sich fühlte. Er zog wortlos eine Augenbraue nach oben, blickte sie streng an.
„Es ist lange her, Leyton“, seufzte sie resigniert.
„Ja, ich weiß.“ Seine Stimme war nur noch ein leises Flüstern. „Es tut mir leid.“
Gerade noch rechtzeitig trat sie einen Schritt zurück, um seiner Hand auszuweichen und keuchte erschrocken. Er hatte kein Recht, sie anzufassen, sie auf diese vertraute Art zu berühren.
Leyton wirkte enttäuscht und zog sich fast unmerklich von ihr zurück. Seine Hände vergrub er in den Hosentaschen.
„Was hast du hier gemacht?“ Sie war froh, dass ihre Stimme jetzt fester klang. Ihr entging nicht, wie er zögerte, um zu überlegen, was er ihr antworten sollte.
„Nichts Wichtiges.“
Sam sah von ihrem Notizblock auf und suchte in seinen Augen nach Antworten. Er erwiderte ihren Blick. Innerlich wehrte sie sich dagegen und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf den dunklen Asphalt zu ihren Füßen zu lenken. Sie sammelte sich und sah ihn abermals an, um ihre Frage zu wiederholen.
„Was hattest du hier zu suchen?“ Es schien, als ob er seine Hände noch tiefer in den Taschen vergrub.
„Ich arbeite jetzt als Privatdetektiv.“ Entgeistert starrte sie ihn an. Leyton ein Privatdetektiv? Das passte nicht. Unmöglich. Sie hatte schon öfter mit Menschen dieser Berufsgruppe zu tun gehabt und konnte sich Leyton in diesem Job einfach nicht vorstellen. Was war vorgefallen, dass er seine Karriere bei der Polizei aufgegeben hatte? Oder hatte er sie sogar aufgeben müssen?
„Ich war wegen eines Auftrags hier. Mehr kann ich dir nicht sagen.“ Er musste ihre Verblüffung gesehen haben, ging jedoch glücklicherweise nicht darauf ein. „Weil ich etwas hörte, ging ich in die Gasse, sah aber nur einen Schatten, der verschwand, als ich näher kam.“
Sie sah ihn skeptisch an.
„Etwas Schwarzes, vermutlich männlich, zwei Meter groß. Ich habe kein Gesicht gesehen.“
Sam glaubte ihm kein Wort, notierte sich trotzdem brav die Stichpunkte auf ihrem Block. Kein ausgebildeter Polizist – und das war Leyton, egal ob er jetzt als Privatdetektiv arbeitete oder nicht – würde eine so ungenaue Beschreibung abgeben. In ihrem Beruf war man geschult, auch auf die kleinsten Details achtzugeben, erschienen sie auch noch so unbedeutend.
„Geht es etwas genauer?“
„Nein, ich habe nicht mehr gesehen.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„Verdammt, Sam, es ist stockdunkel, man sieht kaum seine Hand vor Augen. Was bitte soll ich hier gesehen haben?“ Er machte eine ausladende Handbewegung und zeigte auf die Umgebung um sie herum. Die Leichtigkeit, mit der er sich bewegte, verblüffte Sam noch immer. Trotz seines breiten Erscheinungsbildes waren seine Bewegungen geschmeidig.
„Es ist spät, ich bin müde.“ Er fuhr sich über das stoppelige Kinn. „Ich habe nicht mehr gesehen. Als ich ankam, war die Frau schon tot. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Es war zu spät.“ Bedauern schwang in seiner Stimme mit und etwas anderes, etwas Undefinierbares.
„Hast du sie angefasst? Den Puls gefühlt?“
Jetzt war es Leyton, der sie fassungslos anstarrte.
„Hast du die Leiche gesehen?“, wollte er irritiert wissen. „Ihre Kehle war zerfetzt. Warum hätte ich da ihren Puls fühlen sollen?“
Sam schloss für einen Moment die Augen. Ihre Professionalität löste sich schon wieder in Luft auf.
„Und nein, ich habe sie nicht angefasst. Auch wenn ich als Privatdetektiv arbeite, gewisse Dinge habe ich nicht vergessen.“
Langsam ließ sie die Hände sinken. Mit der Rechten umfasste sie den Stift so krampfhaft, dass es wehtat.
„So war das nicht gemeint.“
„Sie war schon tot. Ich hätte nichts mehr für sie tun können, selbst wenn sie noch gelebt hätte.“ Er beruhigte sich wieder.
„Ist das alles?“
Er nickte stumm.
„Okay, dann brauche ich noch deine persönlichen Angaben.“ Erneut hob sie den Block und fügte entschuldigend hinzu: „Für das Protokoll.“
„Warte, ich gebe dir eine Visitenkarte.“
Sam nickte und steckte ihr Schreibzeug ein. Leyton kramte in den Innentaschen seiner Lederjacke und zog schließlich ein kleines Kärtchen hervor. Zögernd nahm sie es entgegen, peinlich darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Einen hastigen Blick auf die Visitenkarte konnte sie sich nicht verkneifen. Da stand zweifelsfrei Leytons Name in Verbindung mit einer Privatdetektei hier in Boston.
„Sind wir fertig?“ Seine Stimme klang angespannt.
„Ja.“
„Gut, wenn du noch Fragen hast, weißt du ja nun, wo du mich finden kannst.“
„Hmm …“, murmelte sie eine undeutliche Antwort.
Hastig, fast so, als wollte er flüchten, eilte er davon. Nach ein paar Schritten drehte er sich dann noch einmal um und blickte sie direkt an.
„Schade, dass wir uns unter diesen Umständen wiedergetroffen haben. Ich wünschte, es wäre anders gekommen.“ Nachdenklich nickte sie, unfähig etwas dazu zu sagen. „Mach’s gut“, verabschiedete er sich leise.
Er wartete noch einen Augenblick. Als sie jedoch weiterhin schwieg, verschwand er endgültig. Sam blickte ihm hinterher, selbst als er schon lange in der dunklen Nacht verschwunden war.

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