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Der Schleuser – Leseprobe

 

Kapitel 1

Thor parkte den SUV mit den verdunkelten Scheiben direkt vor dem Backsteinhaus der sicheren Unterkunft und stieg aus. Die Abläufe waren ihm inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Er streckte sich auf geistiger Ebene aus und suchte die Umgebung ab. Keine Gefahr zu spüren. Die Anwesenheit der vierköpfigen Familie war gut verborgen in der sicheren Unterkunft und damit nicht spürbar – genau so, wie es sein sollte. Er war der einzige weitere Kruento in der Nähe. Während er über die Straße zum Haus ging, blieb er wachsam und suchte routiniert weiter sein Umfeld ab. Er durfte nicht unachtsam werden, nie. Jede noch so kleine Nachlässigkeit konnte verheerende Folgen haben. Die New Yorker Kruento hatten es schon einige Male geschafft, ihn aus dem Hinterhalt anzugreifen. Er konnte es sich nicht leisten, die sichere Unterkunft zu verlieren. Die Vampirfamilie wäre dagegen entbehrlich, sie waren ohnehin dem Tod geweiht. So zu sterben hatten sie allerdings nicht verdient, und deswegen würde er alles daransetzen, dass sie im Verborgenen blieben.
Mit schnellen Schritten betrat er das Haus. Es verfügte über keinen Aufzug, was ihn nicht störte. Mühelos ließ er die drei Stockwerke hinter sich. Von außen sah die Wohnungstür aus wie jede andere. Nur er wusste von dem Maca-Depot im Türblatt, das den Duft der Kruento verschleierte. Thor hämmerte in einem vorher ausgemachten Rhythmus gegen die doppelt verstärkte Holztür, die auch den Kräften eines Kruento für ein paar Minuten standhalten würde.
Er liebte seinen Job als Schleuser. Er gehörte einem Clan an und hatte seine Leute dennoch nicht ständig um sich. Aufgrund der Distanz von Boston zu New York gab es etliche Verpflichtungen, die er als Soya nicht wahrnehmen musste, ohne dass es ihm jemand übel nahm. Die Kruento, die in sein Leben traten, verschwanden spätestens nach ein paar Tagen wieder. Er war sein eigener Herr, bestimmte seine Arbeit und sein Tempo. Niemand redete ihm rein. Die Schleusertätigkeit war der perfekte Job für ihn. Dennoch gab es Schattenseiten, zum Beispiel die Tatsache, dass der New Yorker Clan nichts unversucht ließ, um ihn zu sabotieren und er deshalb immer auf der Hut sein musste. Auch die eine oder andere Entscheidung verabscheute er und doch hatte er bisher jeden Auftrag zu Ende ausgeführt.
Mori Esmu, ein rundlicher Vampir, um einiges kleiner als der Schleuser und mit einem deutlichen Bauchansatz, ließ ihn eintreten.
„Schleuser“, grüßte der Mori ihn ehrfürchtig und vermied Blickkontakt.
„Packt eure Sachen, wir müssen los!“, sagte Thor tonlos und verschränkte die Arme vor der Brust, während er auf die Familie wartete.
„Natürlich!“ Hastig wies der Mori seine Frau und die beiden Kinder an, sich fertig zu machen. „Ich bin so froh, dass der Dominus es sich anders überlegt hat“, sagte das Familienoberhaupt erleichtert.
„Hm“, brummte Thor. Es lag ihm fern, dem Mori die Illusion zu nehmen. Sollte er daran doch glauben. So würden sie freiwillig mitgehen. Wenigstens das. Für ihn war es auch so schon schwer genug, diese Aufgabe zu erledigen.
Missmutig drehte er sich um und sah in das kleine Wohnzimmer mit der Couch und dem altertümlichen Röhrenfernseher. Warum brauchte die Familie so lange? Wie die meisten Flüchtlinge hatten auch sie kein Gepäck dabei, nur das, was sie am Leib trugen.
Eine hochgewachsene Vampirin, die Samera des Moris, betrat den Flur. Sie überragte ihren Mann um mindestens einen Kopf. Die langen blonden Haare trug sie sorgfältig hochgesteckt. Eine hübsche Vampirin, aber selbst sie hatte er nicht unterbringen können.
„Fertig?“ Die Ungeduld war seiner Stimme deutlich anzumerken.
Der Mori nickte, und Thor wies mit einer Kopfbewegung Richtung Tür. Sie sollten voran gehen, er musste die Wohnung verschließen.
Der Mori ging als Erster, seine Samera Damer folgte ihm. Dann kam ihr Sohn Riu, der erst vor kurzem die Renovation überstanden hatte. Leider war seine Dominanz nicht sonderlich ausgeprägt. Kämpferische Fähigkeiten besaß er auch nicht. Thor hatte sich wirklich Mühe gegeben, aber es war unmöglich, den Jungen zu vermitteln.
Dann kam seine Schwester Nasana. Sie war nicht ganz so hochgewachsen wie ihre Mutter, hatte aber ihre großen Augen und die feinen Gesichtszüge geerbt. Die blonden Haare waren akkurat hochgesteckt. Nur Vampirinnen aus der Alten Welt steckten ihre Haare auch im Alltag hoch, in der Neuen Welt wurde das nur noch zu offiziellen Anlässen praktiziert. Thor hatte in seiner Tätigkeit als Schleuser inzwischen schon so viel gesehen und längst aufgehört, sich zu wundern. Andere Länder, andere Sitten. Ob und wie die Flüchtlinge sich anpassten, gehörte nicht zu seinem Job. Das überließ er den Clans, die die Verantwortung für die Flüchtlinge übernahmen.
Nasana hatte das Ephebenalter bereits hinter sich gelassen. Warum hatten ihre Eltern es versäumt, sie zu verheiraten? Eine ungebundene Vampirin in dem Alter, noch dazu völlig mittellos – welche Chancen hatte sie schon?
Thor schluckte und schloss für einen Moment die Augen. Er konnte sie nicht alle retten. Was ihm möglich war, tat er. Er war nur der Schleuser, sein Aufgabengebiet hatte Grenzen, die ihm an diesem Tag einmal mehr vor Augen geführt wurden. Er hatte wirklich alles versucht. Es gab einfach keinen anderen Ausweg. Er musste es zu Ende bringen.
Thor zog die Tür zur sicheren Unterkunft hinter sich zu und schloss sorgfältig ab. Schon morgen würde er wieder hier sein. Die nächste Lieferung traf noch diese Nacht ein. Ein Vater mit seiner Tochter. Er konnte nur hoffen, dass der Vampir dominanter war als Mori Esmu und dass Blance, der Dominus aus Los Angeles, Verwendung für die beiden Flüchtlinge hatte.
Thor rüttelte an der Tür, schindete damit noch ein paar Sekunden Zeit, ehe er sich umdrehte und der Familie folgte, für die es in der Neuen Welt keine Zukunft gab.

* * *

Wie ein verzaubertes Märchenschloss tauchte das herrschaftliche Anwesen des Blutfürsten vor Delina auf. Die Limousine kroch im Schritttempo den anderen imposanten Wagen hinterher. Dadurch hatte Delina genügend Zeit, die schillernde Umgebung in sich aufzusaugen. Marmorskulpturen lockerten die Blumenbeete zu ihrer Rechten auf, während die dicht stehenden Rotbuchen die Sicht auf das Dahinterliegende versperrten.
Die Einfahrt vor ihnen war mit unzähligen, im Boden eingelassenen Spots ausgeleuchtet, ebenso wie der Fjord zu ihrer Linken. Die Gäste, die nicht wie sie mit dem Auto fuhren, kamen mit dem Boot, und so hatte sich auch dort eine lange Schlange gebildet.
Je näher Delina dem imposanten Haus kam, umso nervöser wurde sie. Diese Nacht würde ihr Leben verändern.
Es hatte niemanden sonderlich überrascht, als der Blutfürst verkündete, sich abermals zu verbinden. Schon vor ein paar Jahren war die Nachricht in aller Munde gewesen, bis die Auserwählte spurlos verschwand. Eine Welle an Gerüchten folgte. Mina Nellisha habe die Renovation nicht überlebt. Andere behaupteten, das Mädchen habe sich ins Ausland abgesetzt. Wieder andere glaubten, sie sei mit einem Vampir durchgebrannt. Welche Version der Wahrheit entsprach, schien niemand zu wissen und da den Gerüchten keine neue Nahrung geliefert wurde, verstummten sie bald wieder.
Sie würde nie die Nacht vergessen, als ihr Vater freudestrahlend nach Hause kam und begeistert erzählte, dass der Vetusta persönlich um Delinas Hand angehalten hatte. Nach der ersten Überraschung blieb die Freude, aber auch ein gewisses Unbehagen. Es war schön, ihren Vater so überglücklich zu sehen. Durch die bevorstehende Verbindung war sie nun endlich keine Enttäuschung mehr für ihn. Der Soya hatte sich sehnlichst einen Sohn gewünscht, stattdessen war sie, ein Mädchen, geboren worden. Egal, was Delina tat, egal, wie sehr sie sich anstrengte, der Soya ließ sie stets spüren, dass eine Tochter nicht gut genug war.
Gleichzeitig wuchsen die Bedenken. Sie hatte den Vetusta bisher nicht persönlich kennengelernt. Sie hatte immer gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem ihr Vater ihr einen Homen suchte. Mit einem aufstrebenden Dan, der eines Tages den Titel als Soya erben würde, hätte sie durchaus gerechnet, oder möglicherweise einem der unverheirateten Soyas, aber nie mit dem Blutfürsten selbst. Würde sie überhaupt den Ansprüchen gerecht werden können, die an die Samera des Vetusta gestellt wurden? Sein Titel und seine Macht flößten ihr eine riesige Portion Respekt ein.
In ihren Kleinmädchenfantasien hatte sie sich gewünscht, eines Tages eine Verbindung aus Liebe einzugehen, und noch war sie nicht bereit, ihren Traum aufzugeben. Vielleicht war der Vetusta ganz anders als sein ihm vorauseilender Ruf. Schließlich war sie ihm noch nie begegnet. Bestimmt entsprachen die Gerüchte, die sich um ihn rankten, nicht den Tatsachen. Der Blutfürst konnte privat sicher auch ganz anders sein, als er sich in der Öffentlichkeit zeigen musste. Dort wurde von ihm erwartet, dass er keine Schwäche zeigte und einen Clan führte. Hinter verschlossenen Türen mochte er dennoch sanft sein.
Sie hatten das Haus beinahe erreicht. Auf der Fahrerseite kam ein ausladender Springbrunnen in Sicht. Drei steinerne Frauen saßen auf einem Becken und hielten auf ihren Händen ein weiteres Wasserbecken, auf dem eine vierte Frau thronte. Tauben zierten den Brunnen, aus den Mündern spritzten kleine Fontänen. Delina hatte schon viel über diesen Brunnen gehört. Er war das Gesprächsthema Nummer eins gewesen, als er vor zwei Jahrzehnten gebaut worden war. Böse Zunge behaupteten damals, die drei Frauen seien die ehemaligen Gefährtinnen des Blutfürsten, die vierte Frau, der die Gesichtszüge fehlten, sollte die zukünftige Samera darstellen. Delina duckte sich, um an ihrem Vater vorbei einen Blick auf die Frauenskulptur in der Mitte erhaschen zu können und wirklich, sie hatte kein Gesicht. Würden die Steinmetze eines Tages dieser Frau ein Antlitz geben? Sollte Delina die Vorlage dafür sein?
Endlich hatten sie das Ende der Schlange erreicht. Die Tür der Limousine wurde geöffnet. Zuerst stieg der Mori aus und reichte seiner Samera die Hand. Dann durfte Delina folgen. Es tat gut, sich nach zwei Stunden Autofahrt endlich wieder bewegen zu können. Das schneeweiße Kleid, ein Traum für jedes Mädchen, war so eng geschnürt, dass Delina nicht tief einatmen konnte. Das mit winzigen Perlen bestickte Kleid hatte ihre Tante Aril, die unverheiratete Schwester ihres Vaters, ausgesucht und dabei keinen Gedanken an Delinas Bewegungsfreiheit verschwendet. Gut, dass ihre Rasse auch über längere Zeit ohne Luft auskam, sonst wäre sie längst in Ohnmacht gefallen.
Ihre Mutter drehte sich zu ihr um. Seit der Nachricht, dass Delina sich verbinden würde, war ihre Mutter immer blasser geworden. Beinahe die gesamte Zeit der Nacht verbrachte sie auf ihrem Zimmer. Das vom Weinen aufgeschwollene Gesicht konnte auch heute durch eine dicke Schicht Make-up nicht vollkommen verborgen werden. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen, dann wandte sie sich wieder ihrem Homen zu und schritt stumm an seiner Seite der breiten Freitreppe entgegen. Mori Jerric hatte den Kopf hoch erhoben und strahlte vor Glück. Delina spürte die neugierigen Blicke der Gäste. In der Einladung war unmissverständlich um Abendrobe in bunten Farben gebeten worden. Das Privileg der weißen Kleider war den Heiratskandidaten vorbehalten. Eine sjütische Tradition, deren Sinn sich Delina nicht erschloss. Schließlich wusste sie bereits, dass der Blutfürst sie wählen würde. Warum dann eine Auswahl, aus der sie gewählt wurde?
Noch bevor sie die breite Freitreppe erreichten, kam eine unscheinbare Vampirin in einem schwarzen Hosenanzug und weißer Bluse direkt auf sie zu.
„Mi!“, grüßte sie ehrfurchtsvoll. „Ich bin hier, um dich abzuholen. Bitte folge mir!“
Fragend sah Delina ihren Vater an, der sich zu ihr umgedreht hatte. Er nickte und gab ihr damit die Erlaubnis, der Vampirin zu folgen.
Delina hatte damit gerechnet, dass sie an den anderen Gästen vorbei ins Haus gehen würden, doch die Vampirin führte sie an der Treppe vorbei.
„Wohin bringst du mich?“, erkundigte Delina sich angespannt.
Sie folgten einem schmalen Weg, der zwischen den Rotbuchen verschwand. Als sie durch den Sichtschutz traten, erstreckte sich vor ihnen ein riesiger Garten. Blumen, wohin das Auge nur reichte. Das war kein Garten mehr, das war vielmehr ein Park.
„Bitte!“, ermahnte die Vampirin Delina, die fasziniert stehen geblieben war, um die überwältigenden Blumenbeete und Figuren aus Buchsbäumen zu bewundern. „Wir müssen uns beeilen. Der Blutfürst wird ungehalten werden, wenn er auf dich warten muss.“
Delinas Augen weiteten sich. Sie würde den Vetusta treffen? Noch vor der Zeremonie? Hastig schloss sie zu der Vampirin auf, die sie zielstrebig weiterführte. Sie spürte, wie die Nervosität zunahm und die Begeisterung für den wunderbaren Park erlosch. Ihre Gedanken konzentrierten sich nun ganz auf ihren zukünftigen Homen. Sie wollte einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen. Er sollte zu dem Entschluss kommen, dass sie die Richtige war. Sie wollte ihren Vater und ihre Familie stolz machen. Und vielleicht … vielleicht war er ein Mann, den sie lieben konnte, auch wenn er sechshundert Jahre älter war als sie und sie seine vierte Samera werden würde. Wenn sie ihm nur schnell einen Sohn gebären konnte oder für den Anfang wenigstens eine Tochter. Denn das sollte der Grund gewesen sein, warum er Desideria, die dritte Samera, verstoßen hatte. In Schande war sie zu ihrer Familie zurückgekehrt, bis ihr Vater starb. Da ihr Bruder Toke Borg, das neue Familienoberhaupt, nicht bereit gewesen war, für sie zu sorgen, hatte sie sich das Leben genommen. Eine traurige Geschichte und ein Schicksal, das ihr hoffentlich erspart bleiben würde.
Eine weiß gestrichene, mit Gaslichtern beleuchtete Holzterrasse kam in Sicht. Die Vampirin ging direkt darauf zu.
Delina wunderte sich etwas über den ungewöhnlichen Treffpunkt, wagte jedoch nicht, ihre Verwunderung in Worte fassen. Sie wollte nicht, dass ihre Klage dem Vetusta zu Ohren kam und er, noch ehe sie ihm persönlich gegenübertreten konnte, ein schlechtes Bild von ihr hatte. Sie war keine hochnäsige und verwöhnte Vampirin. Ihre Eltern hatten sie gut erzogen, und sie beherrschte alle Regeln der Innoka.
„Bitte, warte hier einen Moment, Mi“, bat die Vampirin und verschwand durch eine angelehnte Terrassentür im dunklen Haus.
Delina blieb zurück. Hoffentlich musste sie nicht zu lange warten. Sehnsüchtig sah sie sich nach einer Sitzgelegenheit um. Die Pfennigabsatz-Schuhe bereiteten ihr schon nach dem kleinen Fußmarsch Unwohlsein. Gerne hätte sie sich hingesetzt, um ihren Füßen etwas Erholung zu gönnen. Leider war nur weit und breit kein Stuhl oder eine Bank zu sehen, und die Steinbrüstung sah nicht sonderlich einladend aus. Sie fürchtete außerdem, ihr weißes Kleid dadurch schmutzig zu machen.
Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit, und Delina schrak zusammen, als ein Mann die Terrasse betrat. War das der Blutfürst? Sie war sehr behütet aufgewachsen, und ihre Eltern waren stets bemüht gewesen, ihre Reinheit zu bewahren. Nie war sie mit einem ungebundenen Vampir allein gewesen. Wenn ihre Eltern nicht dabei sein konnten, dann begleitete Tante Aril sie. Doch nun war sie ganz allein. Der Vampir trat ins Licht. Sie sah die blonden Haare und blickte in azurblaue Augen. Ängstlich wich sie zurück. Das war nicht der Blutfürst, dennoch war ihr der Mann nicht gänzlich unbekannt. Es handelte sich um Soya Ducin, einen ungebundenen Vampir. Schon allein deshalb hätte ihr Vater sie nie in seine Nähe gelassen.
„Berne Nox“, grüßte er sie höflich.
„Berne Nox“, murmelte sie und schlug die Augen nieder. Was wollte der Soya hier? War er gekommen, um sie zu holen? Würde er sie zum Blutfürsten führen? Wo war die Vampirin, die sie hergebracht hatte? Ein Anflug von Panik keimte in ihr auf.
„Du bist also die Auserwählte“, stellte er fest und runzelte die Stirn.
War das gut oder schlecht? War er ein Feind oder ein Freund? Delina konnte ihn nicht einschätzen. Sie wusste lediglich, dass er als Soya einer der einflussreichsten Vampire im Clan war. Ihr Vater hatte nie ein schlechtes Wort über den blonden Vampir verloren, der in der Gunst des Blutfürsten ganz oben stand.
„Wie geht es dir?“, erkundigte er sich höflich, und Delina war froh, dass er noch immer auf Distanz blieb.
„Ich bin überglücklich, die Samera des Vetusta zu werden“, entgegnete sie tonlos. Die Worte hatte sie so oft vor dem Spiegel geübt, aber dennoch wusste sie, dass sich die Phrase in diesem Augenblick hohl anhörte.
Die Lippen des Soyas verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. „Gewiss.“ Seine azurblauen Augen bohrten sich tief in sie, schienen bis in ihr Innerstes vorzudringen. Gleichzeitig spürte sie seinen mächtigen Geist, der über ihren strich. Hastig vergewisserte sie sich, dass ihre Schutzwälle intakt waren, und atmete erleichtert auf, als sie diese unversehrt vorfand. Der Soya versuchte nicht, in sie einzudringen, zog sich im nächsten Augenblick sogar komplett zurück.
„Alles Gute, Delina.“ Ein letzter eindringlicher Blick, dann drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit.
Verblüfft stand Delina da, starrte dem Soya hinterher. Was war das für eine seltsame Begegnung gewesen? Was …?
Bevor sie noch weiter darüber nachgrübeln konnte, kehrte die Vampirin zurück, um Delina abzuholen.

* * *

Es war weit nach Mitternacht. Auch wenn der Verkehr in einer Großstadt wie New York nie ganz zum Erliegen kam, spürte man doch, dass deutlich weniger Autos unterwegs waren. Auf direktem Weg hätte Thor gut eine halbe Stunde gebraucht, doch er hatte beschlossen, sich viel Zeit zu lassen. So drehte er eine Extrarunde durch Harlem und machte einen Abstecher in die Bronx. Sie waren jetzt bereits eine Stunde unterwegs, und noch länger konnte er die Fahrt kaum hinauszögern, ohne Fragen aufzuwerfen. Sämtliche – nicht vorhandene – Verfolger hatten sie ohne jede Frage abgeschüttelt. Innerlich resignierend beschloss er, dass die Zeit gekommen war. Bis zu ihrem Zielort am Rande von New York war es nicht mehr weit.
Nicht nur seine Anspannung, sondern auch die der Familie wuchs mit jeder verstreichenden Minute. Er wusste, wie das Unvermeidliche aussah, das auf ihn zukommen würde. Die Familie, die mit ihm im Auto saß, war dagegen absolut ahnungslos. Sie schwankten zwischen Hoffen auf eine Zukunft in der Neuen Welt und Bangen, ob der Dominus aus Dallas sie aufnehmen würde. Thor würde ihnen nicht sagen, dass Dominus Donell bereits nach Dallas zurückgekehrt war. Er hatte sich die Familie vor zwei Tagen angesehen, war dazu sogar persönlich aus Dallas hergekommen. Allerdings hatte er sich gegen Mori Esmu entschieden, weil dieser ihm viel zu unterwürfig war. Er brauchte Leute mit Rückgrat, mit Kampfwillen, die die Zähne zusammenbeißen konnten. Und damit war die Familie raus aus dem Rennen.
Thor erreichte das etwas abseits gelegene Industrieviertel. Ein paar Querstraßen weiter gab es einige verlassene Fabrikgebäude. Der perfekte Ort für das, was er plante. An einen ähnlichen Platz, ein anderes Industriegebiet am anderen Ende von New York, hatte er die Familie bereits vor zwei Tagen gebracht. Dort hatten sie sich mit Dominus Donell getroffen. Thor bog ab, umfuhr im großen Bogen den Zielort, ehe er sich ihm von hinten näherte. Die Einfahrt stand offen. Er gab noch einmal Gas, schoss durch das geöffnete Metalltor und bremste erst direkt vor dem Gebäude scharf ab. Das schockierte Aufkeuchen der weiblichen Familienmitglieder nahm er mit einem kleinen Lächeln zur Kenntnis.
„Hier sind wir!“, erklärte er und deutete auf die Metalltür, die direkt vor ihnen lag.
Sie stiegen aus. Der Mori schob seine Familie ungeduldig vorwärts. Thor wartete, bis sie hinter der Tür verschwunden waren. Er musste noch etwas aus dem Kofferraum holen und öffnete die Heckklappe. Nie würde er das, was jetzt kam, routiniert ausführen. Es war jedes Mal anders, und es fiel ihm jedes Mal schwer. Er hatte gelernt, damit umzugehen, wusste, dass er seinen Verstand ausschalten musste. Keine Gewissensbisse, keine Reue. Das gehörte zu seinem Job. Es gab Dinge, die getan werden mussten. Für den Clan und auch für seine Rasse. Nichts wäre für den Frieden gefährlicher als eine Reihe Clanloser, die unkontrolliert durch die Neue Welt streiften.
Der Kofferraum war so gut wie leer. Er enthielt nur einen Benzinkanister und ein japanisches Langschwert, eingehüllt in eine Decke. Thor griff nach dem Katana, einer Maßanfertigung, die perfekt in der Hand lag. Seine Hand schloss sich fest um das Saya, die Schwertscheide. Beherzt schloss er den Kofferraum und betrat die Fabrikhalle.
„Sind wir hier richtig?“, fragte Mori Esmu irritiert.
„Ja.“
„Wann wird der Dominus eintr…“ In diesem Moment fiel der Blick des Moris auf die Waffe in der Hand des Schleusers. „Was …?“, stammelte er entsetzt und wich zurück.
Der Moment war gekommen. Er musste handeln, und zwar schnell. Jede Sekunde, die er zögerte, verlängerte er das Leiden der Familie. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er das Katana aus der Scheide. Ihm am nächsten stand der Mori, schützend vor seiner Frau und der Tochter. Thor hob das Schwert, rannte auf sie zu. Er sah, wie der Mori panisch den Arm hob, seine Familie schützen wollte. Er holte aus und durchtrennte mit einem einzigen Schlag die Hälse der drei Vampire. Der durchdringende Schrei von Riu hallte durch die Halle. Der Ephebe versuchte fortzulaufen. Doch er hatte keine Chance, nicht gegen einen Soya wie ihn. Mit einem gezielten Schlag gegen die geistigen Schutzschilde des Jungen drang er in dessen Kopf ein und nötigte ihn stehenzubleiben. In Bruchteilen von Sekunden war er hinter ihm, sodass er dem Epheben nicht ins Gesicht sehen musste, während er ihm den Kopf abtrennte. Er holte aus und köpfte ihn. Der Schädel schlug mit einem dumpfen Geräusch am Boden auf und rollte noch etwas weiter. Der Körper fiel in sich zusammen. Auch wenn der Ephebe nicht viel Blut in seinem Körper gehabt hatte und in den nächsten Stunden hätte trinken müssen, war noch genug von dem roten Lebenssaft vorhanden, um den Beton zu tränken.
Es war geschafft! Reglos verharrte Thor, sah zu, wie das Blut sich verteilte. Ein paar Meter weiter lagen in einer riesigen Blutlache die anderen drei Körper. Er schloss die Augen, wollte das Bild, welches sich schon jetzt in seinem Kopf eingebrannt hatte, nicht sehen. Es war noch nicht ganz vorbei. Der schwierigste Teil seines Auftrags war erledigt, aber noch konnte er sich nicht dem Vergessen hingeben. Er hatte noch etwas zu tun. Das blutverschmierte Katana wischte er an dem noch halbwegs sauberen T-Shirt des Epheben ab. Dann erhob er sich, steckte das Schwert zurück in die Scheide und verließ die Fabrikhalle. Aus dem Kofferraum holte er den Benzinkanister und ging zurück zu den Leichen. Großzügig verteilte er den Inhalt des Kanisters zwischen den leblosen Körpern. In ein paar Minuten würde alles in Flammen aufgehen und so heiß und vollständig verbrennen, dass die anrückende Feuerwehr alle Hände voll zu tun hatte, den Brand einzudämmen. Die Fabrik war verlassen, dem Eigentümer würde er sogar einen Gefallen damit tun, das alte Gebäude niederzubrennen. In den Trümmern würde man keine Überreste finden – zumindest nicht von den Kruento. Seine Rasse war robust, aber sie hatten eine Schwäche: Sie brannten gut. Er zog ein Streichholz heraus, zündete es an und ließ es zu Boden fallen. Schnell breiteten sich die Flammen aus, züngelten am Boden entlang. Thor stand vor einem Meer aus Feuer und sah zu, wie die Körper von der Hitze verzehrt wurden. Langsam drehte er sich um und verließ das Gebäude. Er fühlte nichts, als er in sein Auto einstieg und in die dunkle Nacht davonbrauste. Dieser Zustand sollte möglichst lang anhalten, deswegen würde er sich auf direktem Weg nach Manhattan machen. Dort, in einem unscheinbaren dreistöckigen Mietshaus, verbarg sich sein Stammbordell. Nur exklusiven Mitgliedern wurde der Zugang gewährt. Es waren immer ein paar Mädchen frei. Zwei von ihnen würde er heute beglücken. Die eine konnte sich um seine körperlichen Bedürfnisse kümmern, von der Zweiten würde er sich nähren. Die restliche Nacht wollte er nur vergessen.
In der Ferne hörte er Sirenengeheul. Er wusste, wohin sie fuhren. Er war jedoch in entgegengesetzter Richtung unterwegs. Die Straßen waren frei, und so drückte er aufs Gas, auch wenn das hieß, ein paar Verkehrsregeln zu brechen.

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