Es ist bereits nach zehn Uhr. Ich sitze in einer Bar und warte auf meinen Gesprächspartner. Es war sein Vorschlag, uns hier zu treffen. Während ich warte, habe ich mir einen Cocktail bestellt. Jetzt nippe ich daran, als ein großer Mann die Bar betritt und zielstrebig auf mich zusteuert. Bisher kannte ich ihn nur von Fotos und … oh mein Gott … das übertrifft meine kühnsten Erwartungen. Trotz des lässigen Outfits – einer Jeans, weißem T-Shirt und Lederjacke – sieht er aus wie frisch vom Laufsteg. Er sieht einfach umwerfend aus mit seinen dunkelbraunen, kinnlangen Haaren, der dunklen Sonnenbrille und dem durchtrainierten Körper, der sich deutlich durch die Kleidung abzeichnet.
„Guten Abend!“, grüßt er mich, setzt sich mir gegenüber und steckt seine Sonnenbrille weg.
Kurz überlege ich, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, mich mit ihm zu treffen. Ich bezweifel gerade, ob ich einen klaren Gedanken fassen kann, als er mich mit strahlenden, saphirblauen Augen fixiert. Das sind die blausten Augen, die ich je gesehen habe, schießt es mir unwillkürlich durch den Kopf.
„Guten Abend, ich freu mich, dass Sie sich Zeit genommen haben“, bringe ich hervor.
Er nickt kurz.
„Kommen wir gleich zur Sache, wir haben nicht ewig Zeit. Nachher habe ich noch einen Termin. Sie stellen Fragen, ich antworte.“
Eilig blättere ich in meinem Notizbuch herum. Meine Finger sind etwas zittrig, deshalb dauert es länger als sonst, bis ich die gesuchte Stelle finde.
„Gut, fangen wir an. Würden Sie sich bitte kurz unseren Lesern vorstellen.“
„Mein Name ist Darius Wesely, wohnhaft in Boston. Ich bin ein Vampir.“
Er lächelt mich an und entblößt dabei seine Zähne, die auch nicht anders aussehen als die eines Menschen. Ich kann meinem Blick kaum noch von seinen Lippen abwenden und stottere herum, bis ich mich auf meine Notizen besinne.
„Mr. Wesley, wie alt sind Sie?“
„Ich bin 1859 in Boston geboren.“
Geräuschvoll atme ich durch die Nase ein, rechne kurz nach.
„Dann sind Sie über 150 Jahre alt.“
Er nickt.
Es dauert einen weiteren Moment, bis ich abermals einen Blick auf das vor mir liegende Büchlein werfe.
„Seit wann sind Sie ein Vampir?“
„Ein Vampir war ich schon immer. Meine Verwandlung fand 1885 in einem Alter von sechsundzwanzig Jahren statt.“
„Sie waren schon immer ein Vampir? Wie muss ich das verstehen?“
„Die Annahme man wird so wie ich, indem man von einem Vampir gebissen wird und den Bluttausch vollziehen muss, ist falsch. Um genau zu sein, ist unser Blut tödlich für Menschen. Aber das war ja nicht die Frage.“
Sekundenlang lässt er seine weißen Zähe aufblitzen, ehe er fortfährt: „Man wird als Vampir geboren. Mein Vater ist ein Vampir, meine Mutter war ein Mensch.“
„Heißt das, Ihr Vater lebt noch, ihre Mutter nicht mehr?“
Die Frage kam prompt und ohne nachzudenken.
„Ja!“, ist alles, was ich als Antwort erhalte.
„Okay, ich verstehe.“
Er wollte also nicht weiter über seine Familie reden.
„Was machen Sie beruflich?“
„Mal dies, Mal das. Die letzten Jahre war ich in New York, um dort die Interessen meines Vaters zu vertreten. Seit kurzem bin ich nun wieder in Boston.“
„Sie arbeiten also in einem Familienunternehmen mit?“
Abermals schenkt er mir ein hinreisendes Lächeln. „Das könnte man wohl so sagen.“
„Und was gehört zu Ihren Aufgaben?“, formuliere ich meinen nächsten Stichpunkt aus.
„Das …“ Er beugt sich halb über den Tisch und ist mir plötzlich viel zu nahe. „… Schätzchen, wollen Sie überhaupt nicht wissen.“
Ich schlucke, meine Kehle ist plötzlich wie ausgetrocknet.
„Vielleicht sollten Sie einen Schluck nehmen.“
Er blickt auf meinem Cocktail. Es fällt mir schwer, meine Augen von ihm zu lösen. Als es mir gelingt, greife ich zu meinem Glas und nehme einen großen Schluck. Es hilft mir, mich wieder unter Kontrolle zu bringen, und so fahre ich fort.
„Sind sie verheiratet oder haben Sie eine Freundin?“
Gespannt warte ich auf eine Antwort, wie Millionen von Frauen mit mir.
„Nein!“
Ich warte darauf, dass er mehr erzählt. Er hüllt sich jedoch in Schweigen.
„Möchten Sie eines Tages eine Familie gründen?“, versuche ich es noch einmal.
„Momentan nicht, aber vielleicht irgendwann.“
Wieder blicke ich auf meine Notizen, starre auf den nächsten Stichpunkt.
„Haben Sie eine Schwäche?“
Er scheint kurz zu überlegen, ehe er mir antwortet. „Mehr, als genug. Ich mag keine Technik. Sie verändert sich so schnell, dass man fast nicht mitkommt. Mit Müh und Not kann ich mein Handy bedienen.“
Ein hinreißendes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht, das mich dahinschmelzen lässt. Mir liegt auf der Zunge, ihm zu versichern, dass man ein Handy nicht braucht. Gerade noch rechtzeitig kann ich mich beherrschen.
„Wie Stellen Sie sich Ihre Zukunft vor, Mr. Wesley?“
Diese Frage bringt ihn wohl etwas aus dem Konzept, den einen Augenblick nehme ich ein überraschtes Aufblitzen seiner Augen wahr, das jedoch gleich wieder verschwindet.
„Darüber mache ich mir ehrlich gesagt keine Gedanken.“
Ich blicke ihn weiter an, warte darauf, dass er noch mehr dazu sagt.
„In naher Zukunft würde ich ganz gerne nochmal einzige Zeit aus Boston verschwinden. Die momentanen Aufgaben in unserem …“ Er zögert einem Moment, sucht nach Worten. „ … Familienunternehmen sind für mich derzeit etwas unbefriedigend.“
„Möchten Sie zurück nach New York?“
„Nein, das auf keinen Fall. Aber für eine andere Stadt könnte ich mich durchaus begeistern. Leider braucht man dazu diplomatisches Geschick und das ist etwas, was mir nicht sonderlich gut liegt.“
Erneut erscheint sein zum dahinschmelzendes Lächeln, das mein Herz einige Takte schneller schlagen lässt.
„Dann wünsche ich Ihnen alles Gute für die Zukunft“, stammel ich etwas unbeholfen.
„Danke. Meist kommt sowieso alles anders, als man denkt“, murmelt er vor sich in, ehe er sich mit einer geschmeidigen Bewegung erhebt und an mir vorbei aus der Bar verschwindet.
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