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Kruento – Hunger

Hochsommer 1630, irgendwo im Atlantischen Ozean

Ruwen Wesley stand an der Reling und blickte auf das nachtschwarze Meer hinaus. Um ihn herum war nichts außer Dunkelheit und Wasser. Er hielt sich an der Brüstung fest und merkte, wie das Metall unter seinem Griff nachzugeben begann. Augenblicklich löste er den Griff. Seit vier Tagen saßen sie hier fest. Kein Windhauch, der sie auch nur einen Knoten weiter trieb. Er hatte gewusst, welches Risiko er einging, hatte damit gerechnet, dass sein Unterfangen nicht einfach werden würde. Bewusst hatte er auf den Hochsommer gewartet, auch wenn die langen Tage und die kurzen Nächte ihm zu schaffen machten.
„Wir werden von Southampton bis zur Küste höchsten vier Wochen brauchen“, hatte der Kapitän ihm versprochen.
Er biss die Zähne zusammen und unterdrückte ein Knurren.
Seit fünf Wochen war er Tag für Tag in seiner Kajüte gefangen. Nur in den wenigen Nachtstunden kam er an Deck. Die fehlende Nahrung setzte ihm empfindlich zu, der Hunger nagte entsetzlich an ihm. In den ersten Tagen war die Stimmung an Bord gut gewesen. Die dreißig Besatzungsmitglieder hatten das Schiff gut im Griff. Er selbst hatte einen horrenden Preis für seine Einzelunterkunft gezahlt, die im Poopdeck mit etwa zehn weiteren Kajüten lag. Im Gegensatz zu den Offizieren und ihm teilten sich die anderen Mitreisenden zu viert eine kleine Kabine. Anfänglich gab es jeden Abend ein Festessen, inzwischen war auch der Speiseplan der bessergestellten Passagiere auf Zwieback, Bohnensuppe und Pökelfleisch reduziert worden. Aber ihn musste das ja nicht kümmern. Ebenso wenig hatte es ihn gestört, dass nach einer Woche das Wasser faulig wurde und die Besatzung es mit Schnaps streckte. Erst nach zwei Wochen hatte er bei sich die ersten Anzeichen für Hunger festgestellt.
Da hatten sich allerdings im Zwischendeck schon die ersten Krankheiten verbreitet. Es begann mit Brechdurchfall, häufig kam Fieber hinzu und schließlich folgten Benommenheit und ein komatöser Zustand, bis die Erkrankten endlich verreckten. Noch hier oben an Deck konnte er den Gestank von Erbrochenem, Schweiß und Exkrementen wahrnehmen. Sieben Menschen waren bereits dahingesiecht, mindestens weitere zwanzig waren schwer krank und auch die restlichen trugen den Erreger bereits in ihrem Blut, der nur darauf wartete auszubrechen. Am liebsten hätte er dem Kapitän den Kopf umgedreht, doch ohne ihn würden sie nie an ihr Ziel kommen.
Etwas lag in der Luft. Ein erdiger, voller Geruch, mit einer gewissen Schärfe. Nicht von Krankheit zerfressen, aber trotzdem gefährlich.
Der Kapitän bog um die Ecke, begleitet von einem weiteren Besatzungsmitglied. Ein Blick genügte und er wusste, er stand einem Inimicus, einem Feind, gegenüber. Die charakteristische fliehende Stirn, dazu die breite Boxernase und die stämmige, kleine Statur.
„Mr. Wesley“, grüßte ihn der hochgewachsene Kapitän.
„Kapitän“, murmelte Ruwen.
„Wie geht es Ihnen?“, erkundigte der Kapitän sich. „Sie sehen etwas blass aus.“
„Leiden nicht alle Passagiere an der Seekrankheit?“
„Gewiss doch. Aber ich habe gute Neuigkeiten. Das hier“, er deutete auf den kleineren Mann neben sich, „ist mein bester Steuermann. Spüren sie es? Der Wind frischt auf.“
Ruwen betrachtete den stämmigen Kerl eingehend, der ihn wiederum mit zusammengekniffenen Augen musterte.
„Kapitän. Kapitän“, schrie ein Schiffsjunge und eilte herbei. „Eine Prügelei im Backdeck.“
Der Kapitän fluchte, murmelte etwas Unverständliches und wies seinen Rudergänger an, schon vorzugehen. Dann nickte er Ruwen zum Abschied zu und schritt mit dem Schiffsjungen fort.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, erkundigte sich Ruwen höflich, war sich nicht sicher, ob der Andere wusste, was er war.
„Ich weiß nicht“, begann der Rudergänger, fuhr mit der Hand über sein breites Kinn.
Ein Lächeln erschien auf Ruwens Gesicht. Ob es nun an der Dunkelheit lag oder daran, dass der Mann vor ihm noch kein halbes Jahrhundert auf der Welt verweilte, konnte er nicht sagen.
„Ich weiß was Sie sind“, erklärte er ruhig. Er war ausgehungert. Und es war ihm egal, wenn dies sein Ende bedeutete. Er verdrängte die Warnungen seines Volkes vor dem Inimicusblut. Seine Hand schoss vor, ergriff den viel kleineren Mann am Hals. Dieser röchelte, riss die Augen auf. Ruwen sah die Veränderung im Gesicht des Mannes, das Erkennen, was er war.
„Kruento“, keuchte der Inimicus, versuchte sich kraftlos zu wehren.
Doch nicht nur er selbst hungerte, auch der Mann vor ihm hatte seit Wochen kein Fleisch zu Gesicht bekommen. Er spürte, wie seine Fänge sich verlängerten. Seine Augen mussten bereits glühen, wie brennende Kohlen, in einem durchdringenden saphirblau.
Der Druck an seinem Arm wurde stärker. Sein Opfer trat so fest gegen sein Schienbein, dass er einen Moment befürchtete das Gleichgewicht zu verlieren. Er war zu sehr abgezehrt, als dass er sich diese Mahlzeit entgehen lassen konnte. Mit einer schnellen Handbewegung kugelte er dem Anderen den rechten Arm aus, schmiss ihn zu Boden und war schon über ihm, bevor seine Beute nur blinzeln konnte. Dann stürzte er sich auf dessen Halsbeuge und grub seine Fänge tief ins Fleisch. Der warme Lebenssaft sprudelte in seinem Mund, rann ihm die Kehle hinab. Es brannte. Alles schien in Flammen zu stehen. Lag es daran, dass er sich so lange das Trinken versagt hatte, oder am Blut seines Opfers? Eine Veränderung ging in seinem Körper vor. Das Blut des Feindes drang in jede Pore, stärkte ihn. Seine Sinne schärften sich. Schnell strich seine Zunge über die winzigen Male am Hals des Inimicus, die sich augenblicklich schlossen. Dieser wehrte sich nicht mehr, war in einen Zustand der Bewusstlosigkeit gesunken. Ruwen zitterte leicht, die Sterne verschwammen kurz vor seinen Augen. So einen Blutrausch hatte er noch nie erlebt. Er besann sich, musste seine Spuren verwischen, ehe er entdeckt wurde. Mit einer Leichtigkeit, die ihn selbst verblüffte, riss er den leblosen Körper des Inimicus in die Höhe und schmiss ihn über die Reling. Seine Kräfte waren zurück, ebenso wie der Passatwind, der in diesem Moment über das Deck wehte, an den Segeln zerrte. Das Schiff schaukelte leicht.
Ruwen ließ seinen Blick über das Wasser gleiten, genoss die frische Brise. Die Reise ging weiter und es würde nicht mehr lange dauern, bis er als erster seiner Art die Neue Welt betreten würde.


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Die Kruento-Reihe

Kruento – Verloren (Kurzgeschichte)
Kruento – Heimatlos (Novelle)
Kruento – Der Anführer (Band 1)
Kruento – Der Diplomat (Band 2)
Kruento – Der Aufräumer (Band 3)
Kruento – Der Krieger (Band 4)
Kruento – Der Schleuser (Band 5)
Kruento – Der Informant (Band 6)